0979 - Der Totenhügel
gewöhnt, aber ich muss bis zum nächsten Jahr warten. Erst dann sind wieder die großen Ferien. Das ist so schade. Zwischendurch komme ich nämlich nicht.«
»Es ist auch gut, dass du wieder zu deinen Eltern gehst, Lilian. Glaube nur nicht, dass hier alles so schön ist. Es gibt auch Gefahren, von denen du nichts weißt und wissen kannst. Freu dich darüber, dass es dir jetzt gut geht.«
»Gefahren?«
»Ja, meine Kleine.«
»Aber wer sollte denn…?«
»Ich kann darüber nicht sprechen, aber ich sage dir, dass auch ich die Schuld daran trage. Die Gefahr ist immer da, Lilian. Und ich weiß, dass ich nicht für immer bei euch sein werde. Die Zeit, wo ich genügend herausgefunden habe, steht dicht bevor. Dann werde ich wieder abgeholt. Ich bin dann zu jemand anderem geworden. Nimm es hin, Lilian, und vergiss mich einfach.«
So lieb sie sich gab und auch war, manchmal konnte Lilian richtig kratzbürstig sein. »Aber das will ich nicht, Freundin. Ich will dich nicht vergessen.«
»Du wirst es müssen.«
»Ich habe dich noch nie gesehen!« beschwerte sich Lilian. »Ich möchte dich aber wenigstens einmal sehen. Wir haben immer nur gesprochen. Du kennst mich bestimmt, Freundin.«
»Ja, das ist wahr.«
»Du weißt, wie ich aussehe?«
»Richtig.«
»Dann möchte ich auch dich sehen. Ich will wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Vielleicht kann ich dir die Kerzen anzünden. Sie stehen ja überall hier herum. Sie sind bestimmt für dich, Freundin. Jemand hat sie schon angezündet.«
»Da hast du recht.«
»Kennt dich der andere auch?«
»Davon musst du ausgehen.«
»Wer ist es denn?«
»Das spielt keine Rolle. Es ist sein Schicksal, diese Bürde zu tragen, kleine Lilian. Aber ich kann deinen Wunsch verstehen. Du willst mich sehen. Du möchtest mich erleben, wie ich in der Tiefe des Hügels liege.«
»Ja, das will ich, denn ich glaube nicht, dass du tot bist, auch wenn du in der Erde liegst. Tote können nicht sprechen. Du bist bestimmt in einer Höhle, oder?«
»Das wird es sein.«
»Und du bist auch kein Skelett?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Bist du denn ein Mensch?« fragte Lilian und sprach weiter, weil sie nicht sofort eine Antwort erhielt.
»Klar, das musst du sein. Sonst könntest du nicht mit mir sprechen, nicht wahr…?« Erste Zweifel schwangen in der Frage mit. Sie wartete mit angehaltenem Atem und presste Oscar, die Clownpuppe, noch fester an sich.
»Ich bin ein Lebewesen.«
»Kein Mensch?«
»Doch, auch«, gab die Unsichtbare und auch Unbekannte zu. »Ich bin es inzwischen geworden. Ich musste es ja werden, verstehst du das, kleine Lilian?«
»Nein, das verstehe ich nicht. Ich weiß nichts. Ich habe keine Ahnung. Es ist alles anders. Ich kann das auch nicht begreifen. Das ist alles so komisch.«
Die Unbekannte in der Tiefe schwieg. Auch Lilian hörte auf zu reden. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute auf die Hügelerde, als wollte sie den Boden mit ihren Blicken durchdringen und in das Grab hineinschauen. Begreifen konnte sie die Dinge nicht. Das ging über ihren Verstand. Wie konnte jemand sprechen, der in einem Grab lag?
»Ja, Lilian, meine kleine Freundin. Du bist so oft zu mir gekommen. Ich mag dich sehr, deshalb werde ich dir zeigen, wie ich aussehe.«
»In echt?« flüsterte das Mädchen. Es war plötzlich aufgeregt. Sie hatte sich den Sichtkontakt immer gewünscht. Doch nun, wo dieses Ereignis dicht bevorstand, kriegte sie doch Herzklopfen und wurde vor Aufregung rot.
»Glaubst du mir nicht, Lilian?«
»Doch das will ich schon. Aber ich weiß es nicht genau. Wie willst du kommen?«
»Ich komme nicht.«
»Das ist…«
»Tu nichts, Lilian. Bleib einfach nur genau dort stehen, wo du bist. Ist das okay?«
»Klar, das ist gut.«
»So, und dann stell bitte auch keine Fragen mehr. Nichts sagen, kleine Lilian. Nur einfach ruhig sein und das hinnehmen, was du zu sehen bekommst.«
»Ist schon okay.«
»Es dauert nicht lange…«
Die Stimme war leiser geworden. Lilian hatte das letzte Wort schon nicht mehr verstanden. Auch mit seinen zehn Jahren wusste das Mädchen, dass ihm etwas Großes bevorstand. Es wollte nicht darüber nachdenken. Es sollte alles so hingenommen werden, denn daran ändern konnte es wirklich nichts. Hinnehmen, abwarten, die Furcht überwinden. Dabei half ihr Oscar, den sie hart an sich drückte. Immer wenn es spannend wurde oder wenn etwas Ungewöhnliches passierte, suchte und fand sie Trost bei Oscar.
Lilian atmete tief durch. »Wir schaffen es,
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