0979 - Der Totenhügel
sie außer ihrem eigenen Atem nichts hörte.
Bevor sie das Licht einschaltete, warf sie noch einen Blick durch das Fenster neben der Tür.
Draußen war alles ruhig. Es bewegte sich nichts. Die Natur schien sich schlafen gelegt zu haben. Und einen Verfolger konnte sie auch nicht sehen. Die Masken und Statuen schienen plötzlich zu leben, nachdem sie aus der grauen Finsternis hervorgeholt worden waren, denn das Licht sickerte auch in die verschieden großen Spalten der Augen hinein und füllte sie mit unheimlichen Blicken.
Noch nahe der Haustür stehend überlegte das Mädchen, wie es sich weiterhin verhalten sollte. Ihre Tante würde erst in ein oder zwei Stunden zurückkehren. Diese Bridge-Abende konnten sich hinziehen, besonders dann, wenn sich die Spielerinnen viel zu erzählen hatten. Diese Zeit musste Lilian überbrücken.
Aber was tun? Vor die Glotze setzen? Nein, dazu hatte sie keine Lust. Wichtig war, dass sie sich um sich selbst kümmerte, und das meinte sie tatsächlich wörtlich. Sie dachte an das Licht in ihren Augen, und sie wollte sich selbst im Spiegel anschauen, um die Veränderung zu entdecken. Irgend etwas musste sich dort getan haben, auch wenn das Licht nicht mehr vor ihre Füße leuchtete.
Sie kannte sich im Haus ihrer Verwandten natürlich aus. Von dem schmalen Flur zweigte die Gästetoilette ab. Dort gab es auch einen Spiegel und ein Handwaschbecken.
Das Licht aus der Diele reichte bis in den Flur hinein und erwischte sogar den Beginn der Treppe. Bis dorthin brauchte das Kind nicht zu gehen, die Tür zur Gästetoilette befand sich an der rechten Seite.
Die helle Klinke aus Kunststoff sah aus wie ein übergroßer, gekrümmter Finger, den Lilian drückte.
Sie schob sich in den kleinen Raum, machte auch hier Licht und schaute sofort in den ovalen Spiegel über dem Waschbecken.
Sie sah sich selbst.
Das Gesicht, das Haar, die Zöpfe, an denen noch Gras- und Laubreste klebten. Aber das interessierte sie alles nicht. Für sie zählten mehr die Augen.
Wie sahen sie aus?
Das Mädchen traute sich kaum, sich im Spiegel zu betrachten. Sie hielt den Kopf noch gesenkt und hatte die Handballen auf den wulstigen Rand des Waschbeckens gestemmt. Sie hörte sich atmen, sie räusperte sich die Kehle frei, obwohl sie nicht sprechen und nur den Kopf anheben wollte.
Das tat sie.
Die Augen! Das Mädchen lachte auf. Ein silberhell klingendes und auch erleichtertes Lachen, denn ihre Augen waren wieder normal geworden. Sie strahlten nicht mehr dieses helle Licht ab wie noch bei der Begegnung mit dem Monstrum. Ich brauche vor mir selbst keine Angst zu haben, dachte sie. Es ist wieder alles in Ordnung.
Mein Gott, wie erleichtert sie war.
Lange betrachtete sie sich noch. Dabei glitt sie mit der Spitze des rechten Zeigefingers über ihre Stirn hinweg, aber dort fühlte sie auch nichts. Der Druck schien jedenfalls nicht von innen zu kommen.
»Ich bin wieder okay«, flüsterte sie. »Ich bin wieder okay…« Sie wollte es sich einreden, um es auch zu glauben, doch restlos überzeugt war Lilian Kline davon nicht.
Sie hatte das Licht nicht aus sich heraushuschen und verschwinden sehen. Es steckte bestimmt noch in ihrem Körper und wartete nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um sich zeigen zu können. Das alles war möglich in einem Leben, das für Lilian eine andere Bahn bekommen hatte.
Im kleinen Toilettenraum war es ihr zu stickig. Mit einem innerlichen Gefühl der Erleichterung ging sie wieder hinaus und blieb zunächst im Flur stehen.
Jetzt kamen ihr auch wieder die üblichen Geräusche zu Bewusstsein. Aus der ersten Etage hörte sie das Ticken der breiten Wanduhr, die dort oben im Flur hing.
Auch ein anderes Geräusch fiel ihr auf. Nicht innen im Haus, sondern von draußen.
Ein Auto fuhr vor. Jedenfalls hatte es sich so angehört. Das Kind eilte zur Haustür und hatte sie noch nicht erreicht, als durch das schmale Fenster daneben der Lichtschein fiel und durch den Vorflur tanzte, wobei er auch die Masken und Statuen berührte, als wollte er sie für einen Moment anstreichen.
Besuch? Und das um diese Zeit? Wer konnte da kommen? Ihre Tante sicherlich nicht, denn sie war mit dem Rad gefahren, nicht mit dem Auto. Also Fremde oder Bekannte ihrer Verwandten, aber an die letzte Möglichkeit wollte sie nicht glauben. Ihre Tante hätte ihr sicherlich Bescheid gegeben.
Wer parkte also vor dem Haus?
Das Kind war an das Fenster gehuscht. Lilian hatte sich so hingestellt, dass sie selbst nach draußen und viel
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