0980 - Die Rächerin
schlichten Holzzaun vor der Bühne. Mehr eine Dekoration als Hindernis. Hinter ihm präsentierten sich die Menschen, die nicht dem normalen Schönheitsideal entsprachen.
Die Luft unter dem Zeltdach war schlecht, kein Windstoß wirbelte sie auf. Schweißgeruch und Parfümduft waren deutlich wahrzunehmen.
Normalerweise hätte sich Shao in die Besucherschlange einreihen müssen, doch sie interessierte sich nicht für den stärksten Mann der Welt, der soeben wieder eine Kette zerriss und dabei Urschreie ausstieß, wobei die neben im sitzende Frau, eine unheimlich dicke Person mit kleinem Kopf, ihm noch zuzwinkerte und ihn beklatschte.
Auch die Besucher klatschten. Es war alles vertreten. Frauen, Männer und Kinder. Auch sie hatten ihren Spaß, obwohl sie sich vor dem behaarten Menschen, der in einem Käfig hockte, schon fürchteten. Immerhin wurde er als Menschenfresser angepriesen. Er spielte seine Rolle perfekt. In gewissen Abständen schnellte er aus seiner hockenden Haltung hervor, warf sich gegen das Gitter, rüttelte an den Stäben und brüllte seine Wut und seinen Hass den Zuschauern entgegen.
Die Schau lief gut. Auch die Dame ohne Unterleib war vertreten.
Sie hockte auf einer Kiste. Es waren nur der Kopf, die Brust und ihr Hals zu sehen. Sie strickte komischerweise eine Hose, aber sicherlich nicht für sich selbst.
Ein anderer Mann war unwahrscheinlich dünn, er glich schon einem Skelett. Er saß da und aß. An Bändern befestigte Rasierklingen, die er nach dem Hinunterschlucken wieder herauszog.
Wo steckten die beiden Frauen?
Shao suchte sie. Unter den Zuschauern befanden sie sich nicht.
Also musste es hier ein Versteck geben, falls sie das Zelt nicht verlassen hatten. Shao ging bis zur Absperrung, wo ein unwahrscheinlich dicker Mensch wie ein Buddha hockte und sich auf den Bauch klatschte. Immer wenn ein Kind in seine Nähe geriet, leuchteten seine Augen auf. Dann streckte er seine kurzen Arme aus und winkte mit seinen Stummelfingern.
Niemand ging zu ihm. Die Besucher machten sogar einen Bogen um ihn, was den Dicken jedes Mal zu einem kichernden Lachen verleitete.
Shao blieb vor ihm stehen. Sie starrten sich an. Sie sah den Schweiß, der an seinem nackten Körper entlang lief, und sie bemerkte das Grinsen auf dem feisten Gesicht.
Galt es ihr? Wusste der dicke Mann Bescheid?
Sie konnte es nicht sagen, aber sie sah, dass es einen Durchlass gab, der von der Seite her zur und auch wenig später hinter die Bühne führte.
Für das Publikum war das Betreten verboten. Ein Schild wies darauf hin, doch Shao ignorierte es. Sie wollte etwas herausfinden, und was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, führte sie auch durch.
Niemand schien sie zu beachten, auch der Kassierer nicht. Der Dicke war durch andere Besucher abgelenkt, und Shao nutzte die Gunst des Augenblicks. Sie schob sich in den Gang an der Bühnenseite hinein. Vor ihr lag ein Halbdunkel, in das sie eintauchte und bald nicht mehr zu sehen war.
Das T-Shirt zog sie in die Höhe, um schneller an die Waffe heranzukommen. Die Luft hier war noch schlechter, noch stickiger. Sie roch wie in einem Stall. In der Tat hielt man die Menschen hier wie Tiere. Shao schüttelte sich. Über Abfall musste sie hinwegsteigen.
Links von ihr schimmerte die Zeltwand. Der Stoff hielt einen Großteil der Außengeräusche ab. Von der Bühne her hörte sie das Schreien der dort sitzenden Attraktionen, die auf sie nicht geachtet hatten.
Shao erreichte den hinteren Teil der Bühne. Zwischen ihm und der Plane gab es einen genügend großen Zwischenraum. Dort stand ein Generator, der Strom erzeugte, aber sie sah auch aufeinander gestapelte Wasserkästen und leere Kartons. Sogar ein Kühlschrank hatte hier seinen Platz gefunden. Eine Holztreppe führte wieder zur Bühne hoch.
Ein Vorhang nahm Shao die Sicht, und sie fragte sich, wo sie hier landete. Eine Antwort wusste sie nicht.
Die festgezurrte Zeltplane anzuheben, wäre zu schwierig gewesen, und weitere Verstecke gab es nicht. Höchstens im Schatten auf der Bühne.
Shao stieg die Treppe hoch. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie es tat. Da war einfach ein Motor, der sie antrieb. Vor dem stinkenden und staubigen Vorhang blieb sie stehen. In den Tiefen der Falten nistete die Dunkelheit. Shao fiel der Spalt trotzdem auf, der die beiden Hälften trennte.
Soll ich auf die Bühne? Sie überlegte noch, als sich die Falten vor ihr bewegten. Jemand wollte die Bühne verlassen.
Schnell ging Shao zurück.
Einen Moment
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