0981 - Der Fluch des alten Kriegers
weiß ich«, gab der Junge mit tonlos klingender Stimme zu.
»Sehr gut, mein Freund, deshalb kannst du mir auch vertrauen.« Camacho legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. Wieder bohrte sich sein Blick in Johnnys Augen. Er suchte noch nach irgendwelchen Fehlern, die ihm unterlaufen waren, aber Johnny stand voll und ganz unter seiner Kontrolle. Er würde ihm gehorchen.
»Du kennst auch die Freunde deiner Eltern?«
»Ja, die kenne ich.«
»Das ist gut, denn über sie möchte ich etwas wissen. Ich brauche nur eine kleine Information. Ist dir der Name Yakup Yalcinkaya ein Begriff? Kennst du ihn?« Der Apache war auf die Antwort gespannt, denn sie würde ihm seinen weiteren Weg vorzeichnen.
»Ich kannte ihn. Jetzt ist er tot.«
»Ich weiß.« Camacho hielt den Kontakt mit Johnny und nahm seine Hand nicht von dessen Schulter. »Er ist tot, und es tut mir sehr leid, denn ich habe ebenfalls zu seinen Freunden gehört. Ich bin gekommen, um ihn noch einmal zu sehen. Ich möchte ihn auf seinem letzten Weg begleiten, aber ich weiß leider nicht, wo er liegt und wo er morgen beerdigt werden soll. Deshalb sollst du mir helfen. Da du ihn kennst, wirst du Bescheid wissen. Deine Eltern gehen doch bestimmt auch zu dieser Trauerfeier?«
»Ja, sie werden hingehen.«
»Das ist gut. Und wo müssen sie dann hin?«
»Zum Friedhof.«
»Das weiß ich. Aber nenn mir den Namen.«
»Er ist nur klein.«
»Wie heißt er?« Der Apache spürte plötzlich eine Barriere, die sich zwischen ihm und Johnny aufgebaut hatte. Nicht, daß sich der Junge auf seine Art gewehrt hätte, er hatte echt Mühe, sich an den Namen des Friedhofs zu erinnern. Er quälte sich, und Camacho gab ihm dabei die nötige Unterstützung. »Du schaffst es, mein Junge. Ich weiß, daß du es schaffst. Du mußt dich nur erinnern, und du mußt dich anstrengen.«
»Der Friedhof ist klein.«
»Gut, sehr gut. Weiter.«
»Er ist nicht in der Stadt.«
»Wo dann?«
»Nicht weit von hier.«
»Den Namen, Johnny!«
Der Junge stöhnte. Er stand unter Druck. Aber er bemühte sich. Auf sein Gesicht hatte die Anstrengung einen Schweißfilm gelegt. Plötzlich bewegte er die Lippen. Seine Antwort war nur ein Hauch, aber der Apache hatte gute Ohren. Er konnte den Namen verstehen, behielt ihn auch, atmete tief durch und zeigte dem Jungen ein Lächeln, das dieser jedoch kaum registrierte.
»Ich bedanke mich bei dir, Johnny, und wünsche dir alles Gute.« Der Apache trat zurück. Er sprach ein paar Worte in seiner Sprache, schaute Johnny dabei an und strich mit der Hand über dessen Stirn.
Der Bann war gelöst.
Plötzlich erwachte Johnny wie aus einem tiefen Traum. Er stand auf dem Gehsteig. Er spürte die Sonne im Nacken. Er hielt noch sein Rad fest, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wie er auf diese Straßenseite gelangt war. In seinem Kopf herrschte eine gewisse Leere. Er fühlte sich auch schwach.
Dann blickte er sich um.
An der nächsten Straßenecke sah er den Rücken eines Mannes, der soeben um die Kurve verschwand. Der Mann schaute sich noch einmal um, aber Johnny brachte ihn nicht mit der Lücke in seinem Erinnerungsvermögen in Verbindung.
»Das ist vielleicht blöd«, flüsterte er. Gegenüber lag sein Elternhaus.
Alles war ruhig. Dabei hatte er sich noch vor wenigen Sekunden von seinem Freund verabschiedet.
Blackout, dachte er. Ich habe schon einen Blackout. Und ich dachte immer, es würde nur ältere Menschen treffen.
Ihm war schon komisch zumute. Er mußte schlucken. Und er beschloß, seinen Eltern nichts davon zu sagen. Schließlich wollte er sich nicht blamieren…
***
Der Mann, der für Ordnung auf dem Friedhof sorgte, hieß Don Bailey. Er war der Oberaufseher, ohne allerdings von Beruf Totengräber zu sein.
Die Stadt hatte ihn eingesetzt und ihm die Verantwortung für mehrere Friedhöfe übertragen. Er koordinierte die Beerdigungen und andere Arbeiten, er kümmerte sich um die Leichenhallen und um die Schuppen, wo die Totengräber ihre Arbeitswerkzeuge abgestellt hatten. Einige dieser Männer bedienten sich bereits der kleinen Bagger, mit denen sie Gräber aushoben. Die anderen mußten noch bei einem dreitägigen Lehrgang den Führerschein für dieses Gerät machen. Dann hörte die Knochenarbeit auf, auch auf dem Waldfriedhof, den Bailey an diesem späten Nachmittag inspizierte. Er tat diesen Job schon einige Jahre, und er kannte die Friedhöfe wie seine eigene Westentasche. Die Namen vieler Verstorbener waren ihm ein Begriff. Er hätte sie
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