0983 - Der Ort der Stille
Nach einer winzigen Pause fuhr er fort: „Wenn er sich also von Prontos mitnehmen ließ, so tat er das freiwillig und zu einem bestimmten Zweck. Ubrigens, Kuman, woher weißt du, daß Prontos den Gefangenen befreite und die Kugel mitnahm?"
„Die Götter verrieten es mir und sie ..."
„Es wird besser sein, du kehrst in deine Höhle zurück und bleibst dort, bis Prontos wieder da ist. Dann werden wir die Wahrheit erfahren."
Kuman starrte ihn ungläubig an.
„Ich soll in meine Höhle gehen? Was bedeutet das?"
„Es bedeutet, daß wir beschlossen haben, dich nicht mehr als unseren Priester anzuerkennen. Es war Prontos, der uns das Feuer gab."
Noch einmal wollte Kuman protestieren, doch die finsteren Blicke der Männer ließen ihn schweigen.
Wortlos drehte er sich um und ging in Richtung der nahen Felsen davon.
Prontos kam inzwischen schnell voran. Zwar verlor er bald die Spur des Flüchtlings, aber der ausgetretene Pfad war kaum zu verfehlen. Es dauerte auch nicht mehr lange, da sah er ihn vor sich. Ohne zu zögern, rief er ihn an und befahl ihm stehenzubleiben.
Der Himmelsnahe erschrak und wollte weiterlaufen, aber dann bemerkte er, daß sein Verfolger waffenlos war. Er hielt an und wartete.
Lässig stützte er sich auf seine Keule.
„Was willst du von mir?"
„Deinen Beutel, Himmelsnaher. Nur den Beutel und seinen Inhalt, dann kannst du weitergehen."
„Nimm ihn dir, wenn du kannst."
Prontos verspürte keine Lust, sich auf den ungleichen Zweikampf einzulassen.
„Warum gibst du ihn mir nicht freiwillig? Ihr habt unser Feuer gestohlen und nun den kleinen Gott. Er würde euch kein Glück bringen."
„Ein Gott ...?"
„Er bringt euch kein Glück", wiederholte Prontos.
„Wir werden ja sehen", erwiderte der geflohene Himmelsnahe, verstummte aber jäh, als etwas Seltsames geschah, was weder er noch der Kenute begreifen konnten.
Die Hand, die den Griff der Keule fest umspannte, spürte plötzlich keinen Widerstand mehr. Sie ballte sich automatisch zur Faust, denn sie war leer. Die Holzkeule selbst war durchsichtig geworden und verschwunden.
Prontos handelte geistesgegenwärtig, ohne sich Gedanken über das Wunder zu machen. Der kleine schwarze Gott hatte ihm wieder einmal beigestanden, nahm er an. Mit einem wilden Schrei stürzte er sich auf den verdutzten Himmelsnahen und schlug ihn nieder. Der derart Überraschte stürzte so unglücklich, daß er mit dem Kopf gegen einen Felsen prallte und reglos liegenblieb.
Prontos nahm ihm den Beutel ab und sah hinein. Dann hängte er ihn sich um und kehrte in sein Dorf zurück.
Eine Stunde später wurde Kuman aus der Ansiedlungvertrieben.
*
Die Auflösungserscheinungen nahmen zu.
Ganze Inseln des Fragments verschwanden und mit ihnen die jeweiligen Bewohner. Noch verblieb die Energie, aus der ES sie einst erschaffen hatte, innerhalb der Materiesenke erhalten. Sie trieb in Form einer diffusen Wolke durch das Nichts, als wolle sie alles in sich aufsaugen, was sich nun zurückverwandelte. Die Gefahr einer Konzentration schien unvermeidlich.
Davon wußte Harno noch nichts, der wieder neben dem wohltuenden Feuer auf dem Opferstein ruhte.
Besorgt nahm er die Gedankenimpulse der Kenuten auf, die kaum noch Holz fanden. Wo früher Bäume waren, entdeckten sie nur noch nackten Felsboden.
Aber Harno hatte auch andere Sorgen. Er fragte sich, ob er nicht früher oder später das gleiche Schicksal erleiden mußte wie die von ES erschaffenen Projektionen. Es erschien ihm zwar höchst unwahrscheinlich, da er aus anderer Energie und Materie bestand, aber an diesem seltsamen Ort der vollkommenen Stille, wie er ihn getauft hatte, besaßen normale Naturgesetze keine Gültigkeit mehr.
Was überhaupt besaß hier noch Gültigkeit?
Er fing immer seltener Impulse der Quetzkoatls auf, die sich tief in das Gebirge zurückgezogen hatten.
Andere wiederum hatten den Flug über das Meer angetreten, um auf einer anderen Insel Zuflucht zu suchen. Es würde ihnen wenig nützen.
Der Zeitpunkt, an dem Harno aufbrechen mußte, rückte immer näher.
*
Im Dorf der Kenuten begann das große Verschwinden bei den Feldern. Als die Frauen nach der Ruheperiode hinausgingen, um frische Früchte zu holen, mußten sie feststellen, daß keine Bäume und Pflanzen mehr vorhanden waren. An ihrer Stelle bedeckten lose Steine den felsig gewordenen Boden.
Entsetzt kehrten sie ins Dorf zurück, in dem sich Panik verbreitete. Ohne die Früchte waren die Kenuten dem Hungertod
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