099 - Der steinerne Gott
empfangen.
Dorian fiel erst jetzt auf, daß die Haltung Grettirs, der trotz seines Alters majestätisch auf dem Thron saß, der Haltung des Hermon auf dem steinernen Standbild ähnlich war.
„Sie wollen sicherlich wissen, was ich hier zu suchen habe?" sagte Grettir, als könnte er Dorians Gedanken lesen.
„Ich bin nur überrascht, einen Fremden hier zu finden", rechtfertigte sich Dorian. „Wir - das heißt ich, habe Hermon den Dreimalgrößten zu finden gehofft."
„Ja, ich weiß. Ich habe auch schon mit Magnus Gunnarsson gesprochen." Der Alte nickte. „Er ist ein Landsmann von mir. Und doch - wie sich die Zeiten geändert haben. Keine noch so exakten Informationen über einen Menschen können ein persönliches Kennenlernen ersetzen. Da hilft auch keine Magie. Und deshalb sind Sie hier. Hermon wollte sich selbst ein Bild von Ihren Fähigkeiten machen."
„Wo ist Hermon?"
Der Alte hob die Schultern und sagte: „Sie werden schon mit mir vorliebnehmen müssen." Er stand auf. „Hören Sie sich einmal meine Geschichte an. Sie kann sehr lehrreich für Sie sein."
Grettir verließ den Thron und schritt in den Raum hinein. Er wanderte unruhig um den marmornen Tisch herum, änderte gelegentlich die Richtung, blieb stehen, um durch entsprechende Gesten seine Erzählung zu unterstreichen und bei ihm wichtig erscheinenden Punkten Dorian direkt anzusprechen.
„Wenn Sie meinen Namen kennen, ist Ihnen auch die Sage bekannt, die berichtet, wie ich Torisdalur entdeckt habe. Ich selbst habe diese Legende verbreitet, in der Hoffnung, daß viele dieses sagenhafte Tal suchen würden - und daß einer zumindest es findet und versuchen würde, den Tempel zu erforschen. So wie ich es damals getan habe. Als ich Torisdalur fand, da war mir der Name Hermon oder Hermes Trismegistos kein Begriff. Woher auch? Ich war ein einfacher Naturbursche. Aber als ich dann dieses steinerne Standbild vor mir sah, beschloß ich, sein Geheimnis zu ergründen. Wie Sie, mußte ich jedoch zuerst gegen die Ungeheuer meines triebhaften ES ankämpfen - und wie viele nach mir und vor Ihnen. Jene waren aber nicht würdig. Deshalb unterlagen sie sich selbst. Steckt nicht viel Weisheit hinter der Methode, nur jene zu Auserwählten zu machen, die sich selbst überwinden können? Aber ich schweife ab. Es ist nicht der richtige Augenblick zum Philosophieren. Sie müssen mir verzeihen. Die lange Einsamkeit hat mich geschwätzig gemacht. Jahrzehntelang habe ich mich danach gesehnt, mit jemandem zu sprechen. Sie wissen schon, was ich meine. Der persönliche Kontakt.
Ja, ich bin in den Tempel eingedrungen. Und seit damals durchstreife ich ruhelos und einsam dieses Labyrinth."
„,Heißt das, daß Sie Hermes Trismegistos' Gefangener sind?" fragte Dorian.
„Das heißt es wohl. Aber Sie dürfen das nicht mißverstehen." Grettir nahm wieder seine rastlose Wanderung auf. „Ich könnte den Tempel jederzeit verlassen. Ich meine, niemand würde mich gewaltsam daran hindern. Doch die Verantwortung hält mich hier fest."
„Welche Verantwortung?"
„Lassen Sie mich weitererzählen. Auf meiner Wanderung durch den Tempel - und nachdem ich eine Reihe von Prüfungen bestehen mußte -, kam ich in diesen Raum. Wie Sie, wurde ich von einem greisen Unbekannten empfangen: Terrir - der von der Nachwelt als Halbtroll bezeichnet wurde und schon damals als solcher galt. Er erzählte mir eine ähnliche Geschichte wie ich Ihnen. Und dann dankte er mir unter Tränen dafür, daß ich ihn endlich gefunden hatte und ihn nun ablösen würde." „Als Diener des Hermon?" warf Dorian ein.
„Ja, sozusagen. Aber bald erfuhr ich, daß ich mehr als nur ein Diener Hermons sein sollte. Ich war der Erbe seiner Macht."
„Und haben Sie Hermes Trismegistos von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommen?" fragte Dorian, der diese Frage nicht länger mehr zurückhalten konnte.
„Verstehen Sie denn noch immer nicht?" fragte Grettir bekümmert. „Terrir war Hermes Trismegistos - und er war es auch nicht. Und auch ich wurde zu Hermes Trismegistos - und doch bin ich Grettir. Mein Nachfolger mag Hunter oder Gunnarsson heißen - er wird zum Träger von Hermons Macht."
Dorian schwindelte. Er konnte das Gehörte noch nicht ganz begreifen. Bis zu diesem Augenblick hatte er gedacht, daß Hermes Trismegistos nur einen Auserwählten zu seinem Diener bestimmen wollte. Doch nun erfuhr er, daß Hermes Trismegistos gar nicht der Träger seiner Macht war.
„Dann - existiert Hermes Trismegistos überhaupt
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