0992 - Der Judasbaum
wollte es nicht wahrhaben. Zacharias war ein Mensch. Er hatte sich zurückgezogen, um von diesem kleinen Eiland im Sumpf seine Angriffe wie Dolchstöße fahren zu können.
Zacharias zuckte, und auch Harry schrak zusammen. Es war ein Zucken der rechten Schulter gewesen, die der Killer nun angehoben hatte und in dieser Schieflage hielt.
Auf einmal jaulte Rocky schaurig auf. Es war der erste Laut, den der Hund nach dieser schaurigen Entdeckung abgegeben hatte, und auch Harry hatte seinen vierbeinigen Begleiter vergessen. Jetzt, wo Rocky wieder »lebte«, schaute Stahl hin.
Der Hund stand vor der Gestalt mit eingezogenem Schwanz. Er stemmte sich auf seine Pfoten, aber die Haltung erinnerte an die eines Tieres, das auch unter Angst litt, nicht sprungbereit war, sondern so wirkte, als wollte es sich jeden Augenblick zurückziehen und diesen gewaltigen Satz nach hinten aus der Hütte wagen.
Rocky zitterte am gesamten Leib. Die Augen zuckten. Er drehte den Kopf, um den Menschen anzuschauen, und Harry Stahl empfand diesen Blick als eine Warnung.
Es würde etwas passieren.
Du mußt verschwinden, sagte ihm die innere Stimme. Du mußt zusehen, daß du aus diesem Bereich rauskommst. Alles hier hat sich verändert, als stünde es unter einem Fluch.
Es war zu spät.
Ein anderer hatte die Regie übernommen. Dabei wußte Harry nicht einmal, ob es der Killer persönlich gewesen war oder jemand, der weit im Hintergrund lauerte und nicht zu sehen war.
Bruno stöhnte auf.
Es blieb nicht dabei, denn auch in seinen beiden Augen veränderte sich etwas.
Die Schwärze blieb, aber sie bewegte sich jetzt. Als Zuschauer mußte sich Harry eingestehen, daß dort von hinten etwas durch die Schächte nach vorn gedrückt wurde.
Stahl war so fasziniert von dieser Veränderung, daß er nicht spürte, wie die Zähne des Hundes am Stoff seiner Hose zerrten. Rocky spürte intensiver, daß sich die Gefahr hier vergrößert hatte.
Harry Stahl achtete nicht auf die Warnung.
Etwas anderes zog ihn viel stärker in seinen Bann, denn aus den Augen des Killers rann eine pechschwarze, stinkende Flüssigkeit, die ihn an heißen, flüssigen Teer erinnerte…
***
Es war ein Begriff gefallen, über den ich einfach nachdenken mußte: Judasbaum.
Wem war der Name Judas kein Begriff? Da brauchte man nicht unbedingt Anhänger des christlichen Glaubens zu sein, um mit ihm etwas anfangen zu können. Judas war der Verräter unter den Aposteln gewesen. Einer, der seinen Herren hintergangen hatte.
Und Schneider? Es paßte zu den Erklärungen des ehemaligen Bischofs.
Auch er fühlte sich als Verräter. Er hatte jemanden hintergangen und war dabei, für diesen Frevel zu sühnen. Er litt innerlich und äußerlich, denn die Wunde an seiner linken Seite mußte einfach schmerzen, dessen war ich mir sicher.
Aber wen hatte er hintergangen?
Das war die große Frage, die mich beschäftigte. Er hatte es mir nicht gesagt, aber er hatte auf den Anblick des Kreuzes auch nicht normal reagiert. Er war eingesperrt in seinen seelischen Käfig, aus dem er sich kaum würde befreien können. Zumindest nicht allein.
Um ihm diese Hilfe zu geben, saß ich auch neben ihm.
Zumindest freute ich mich darüber, daß ich einen Fortschritt erzielt hatte. Wir saßen in meinem Wagen und rollten einem Ziel entgegen, das für uns beide wichtig werden würde.
Daß mir Fragen auf der Zunge lagen, verstand ich. Nur traute ich mich nicht, sie dem Bischof zu stellen. Er machte mir nicht den Eindruck eines Menschen, der bereit war, auf Fragen auch die entsprechenden Antworten zu geben.
Regungslos saß er neben mir. Nur durch das Schaukeln des Wagens bewegte sich sein Körper. Ansonsten traf er keinerlei Anstalten, auch nur den Kopf zu drehen und die Hand zu heben. Der Mann war in Gedanken versunken, die sich möglicherweise auch mit dem Sterben beschäftigten. Daß er diesen Weg gehen würde, hatte er mir deutlich genug zu verstehen gegeben.
Ich konnte auch seine linke Wange sehen, wenn ich den Kopf drehte. Noch immer sah sie unnatürlich aus. Kleine Fetzen klebten auf der aufgerissenen Haut. Die Wange war zum größten Teil eine einzige große Wunde, und die weißen Schnipsel stammten von meinem Papiertaschentuch. War diese Verletzung das Mal des Verräter?
Seit ich mit dem Begriff Judasbaum konfrontiert worden war, zog ich das in Betracht.
Manchmal räusperte er sich. Dann hatte ich Hoffnung, daß er anfangen würde zu sprechen. Dies wiederum tat er nicht. Er blieb stumm. Der
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