0992 - Der Judasbaum
Sicherheitsgurt hielt ihn. In das dehnbare Material schwankte sein Körper hinein, wenn er sich wieder zu heftig bewegte.
Ich war einfach gefahren. Weg von der Kirche, aber auch nicht zu einem der kleinen Orte, sondern hinein in die Umgebung, die sehr sumpfig war. Darüber hatte ich mich bereits vor meinem Besuch kundig gemacht. Es war keine Umgebung, in der man gern lebte, hier war alles anders. Hier kam nur der Kenner durch. Wir fuhren nur an dem Gelände vorbei, das sich links von uns erstreckte. Ein graubraunes, weites Feld, auf dem sich Niederholz ausgebreitet hatte, es flache Tümpel gab, die sich mit Grasflächen abwechselten, die ebenfalls auf dem Wasser schwammen. So zumindest kam es mir vor, weil der Wind über die Gräser strich und sie zu einer Seite hin kämmte.
Vögel trieben schwer durch die Luft. Sie wirkten nicht grazil, nicht flink, sondern schienen sich der Trauer der Gegend durch ihre Bewegungen angepaßt zu haben.
Die Sonne hatte sich zurückgezogen. Der Himmel war vom Prinzip her blau, auch wenn sich hin und wieder helle Flecken zeigten, denn dort lagen die Wolken nicht so dicht nebeneinander.
Das Schweigen konnte mir nicht gefallen. Nach einer Weile unterbrach ich es auch.
»Sind wir auf dem richtigen Weg, Herr Schneider?«
Der Mann nickte.
»Muß ich irgendwann abbiegen?«
»Ich sage Ihnen Bescheid.«
»Und dann?«
»Es gibt einen Knüppeldamm.«
»Der in den Sumpf führt, denke ich?«
»Ja, das stimmt.«
Mehr wollte er nicht sagen, denn sein Gesicht verschloß sich wieder. Er nahm wieder den gequälten Ausdruck an. Ich hätte ihm so gern geholfen, aber ich wußte auch, daß sich dieser Mann nicht helfen lassen wollte. Er ging seinen eigenen Weg. Es schien ihm dabei überhaupt nicht zu interessieren, ob er einen Beifahrer hatte oder nicht. Er konzentrierte sich einzig und allein auf seine Probleme.
Verändert hatte sich die Landschaft nicht. In der Ferne sah ich einen Kirchturm. Er zeichnete sich ziemlich deutlich in der wirklich regenklaren Luft ab, die sich unter der Wolkendecke ausgebreitet hatte. Die Klarheit war trügerisch. Auch die Wärme gefiel mir nicht.
Sie paßte nicht in den Trauermonat November hinein, denn da hatte sich der menschliche Körper schon umgestellt.
Auf der Insel war es nicht anders, denn von dort rückte das miese Wetter an.
»Sie müssen gleich anhalten, Herr Sinclair.«
»Beginnt dort der Damm?«
»Ja.«
»Wo führt er hin?«
»Zu den Inseln.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet, und deshalb fragte ich: »Hatten Sie nicht von einem Judasbaum gesprochen?«
Bischof Schneider nickte. »Das eine schließt das andere nicht aus. Er ist gewaltig, und er wächst aus dem Wasser hervor. Aus der dunklen, tödlichen Flüssigkeit.«
»Dann steht er nicht auf einer Insel?«
»Nein.«
»Warum nicht?« fragte ich weiter. »Kann er denn im Wasser überleben?«
Schneider nickte. »Er kann, glauben Sie mir.« Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Ich hätte wirklich nicht den Brief schreiben sollen. Nein, das hätte ich nicht tun sollen. Ich werde und ich muß meinen Weg allein gehen. Tun Sie sich selbst und auch mir einen Gefallen. Wenn wir den Baum erreicht haben, akzeptieren Sie ihn. Um mehr kann ich Sie nicht bitten.«
»Haben Sie denn an etwas anderes gedacht, Herr Schneider? Haben Sie damit gerechnet, daß ich ihn umhacken will?«
»Nein, sicherlich nicht. Das würden Sie nicht schaffen. Niemand bringt so etwas fertig. Der Baum ist stärker als wir Menschen, und er ist etwas Besonderes.«
Das konnte ich mir vorstellen, aber ich wollte mehr wissen und fragte ihn deshalb: »Beschränkt sich das Wissen über den Baum nur auf Sie selbst?«
»Was meinen Sie?«
»Wissen auch andere Menschen Bescheid? Sind Sie informiert, was sich da erhebt oder was dort in ihrer Nähe gewachsen ist?«
»Es kann sein«, gab er einsilbig zurück, um wenig später den Arm anzuheben. »Sie müssen jetzt achtgeben, der Damm ist nicht so leicht zu finden. Fahren Sie noch langsamer.«
Das tat ich, erkundigte mich gleichzeitig, ob er den Baum zu Fuß besucht hätte, wäre ich nicht mit einem Auto bei ihm gewesen.
»Nein, ich hätte mein Rad genommen.«
»Das ist auch eine Möglichkeit.« Im Schrittempo fuhr ich weiter und mußte erkennen, daß der Beginn des Knüppeldamms tatsächlich nicht so leicht zu finden war. Der relativ trockene Untergrund sah aus, als würde er nahtlos in den anderen, gefährlichen übergehen, wäre da nicht dieser braune Streifen
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