0992 - Der Judasbaum
werden.
Er gab Rocky einen Klaps. Irgendwie fühlte er sich plötzlich besser. »Komm jetzt, bringen wie es hinter uns!« Harry ging schneller als sonst. Es löste sich kein Schatten aus dem Dunst, und er sah auch den Eingang. Natürlich keine Tür, nur ein Loch, hinter und in dem sich die Dunkelheit zusammendrängte.
Keine Bewegung.
Stille.
Trügerisch?
Vor dem Loch stoppte Harry. Seine Waffe zeigte nicht mehr zu Boden. Die Mündung wies in das Innere des Unterstandes hinein wie ein suchendes Auge. Es fand kein Ziel.
»Okay, dann wollen wir mal…«
In diesem Augenblick fing Rocky an zu knurren. Und wie er knurrte! Das hatte Harry bei ihm noch nicht gehört. Es klang sehr dumpf, auch warnend. Der Hund hielt das Maul offen, die Zähne ger fletscht, als hätte er Furcht vor etwas unheimlich Bösem.
Es war in der Hütte, aber es war nicht zu sehen. Zumindest für den Mann nicht.
Harry schaute den Hund an. Dessen Fell hatte sich gesträubt. Er wirkte wie jemand, der auf keinen Fall eine bestimmte Stelle überschreiten wollte.
Warum nicht?
»He, was hast du?«
Rocky zog sich etwas zurück.
»Verdammt, du willst mich doch nicht im Stich lassen?« Er schlug gegen die Flanken des Tieres. »Das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich…«
Rocky bellte. Es klang heiser und war schon mit einer Warnung zu vergleichen.
So sehr sich Harry auch anstrengte, er sah nichts, was auf eine Gefahr hingedeutet hätte. Einen Rückzieher wollte er nicht machen, jetzt, wo er dicht am Eingang stand und sich seine Augen auch auf die Lichtverhältnisse eingestellt hatten.
So sah er, daß die Hütte nicht leer war. An der rechten Seite lagen Decken auf dem Boden und waren zu einem Lager gerichtet. Der Geruch nach kalter Asche wies darauf hin, daß ab zu ein Feuer gemacht worden war. Einen kleinen Koffer und eine Reisetasche aus weichem Material sah er ebenfalls, als er den Kopf von rechts nach links drehte, da er auch die andere Seite der Hütte durchforsten wollte.
Zwei Dinge passierten zugleich.
Harrys rechte Hand zuckte hoch. Er richtete die Mündung auf ein Ziel, und Rocky fing an zu jaulen.
Das Ziel war ein Mensch.
Er hockte auf einem Holzklotz oder Baumstumpf. So genau konnte der Mann das nicht erkennen. Es war auch unwichtig. Ihn interessierte nur der Mensch.
Harry Stahl wußte, daß er Bruno Zacharias, den Killer, gefunden hatte…
***
Plötzlich war alles anders für ihn. Seine gesamten Vorstellungen brachen zusammen. Er hatte sich auf einen Kampf eingestellt, möglicherweise auch auf eine Niederlage oder sogar den Tod, und jetzt stand er im Versteck des Killers, sah diesen Mörder vor sich auf einem Klotz hocken und mußte erkennen, daß die Gestalt überhaupt nichts tat und beinahe wie eingefroren wirkte.
Nichts passierte mit ihr.
Keine Bewegung ihrer Augen, ihrer Haut, ihrer Hände. Einfach gar nichts. Der Mann hockte auf seinem Platz wie eine Statue oder wie eine Leiche, die man vergessen hatte zu begraben.
Das begriff er nicht. Und er wunderte sich auch über Rockys Reaktion, denn der Hund gab einfach keine Ruhe. Er knurrte, sein Fell war nach wie vor gesträubt. Er hatte das Maul weit aufgerissen, und seine Zähne schimmerten gefährlich wie spitze, kleine Messer.
Harry verstand die Welt nicht mehr. Normalerweise wäre er auf den Killer zugegangen und hätte ihn auch angesprochen. Ihn möglicherweise sogar geweckt, das aber ließ er bleiben, wahrscheinlich auch deshalb, weil Rocky sich nicht beruhigen wollte und weiterhin seine drohenden Laute abgab.
Ihm war die Gestalt ebensowenig geheuer, wie dem guten Harry Stahl. Der allerdings wußte, daß er hier nicht länger stehenbleiben und starren konnte. Er mußte etwas tun und herausfinden, was tatsächlich mit Zacharias passiert war. Daß ihn jemand hypnotisiert und hier zurückgelassen hatte, wollte er nicht glauben.
Deshalb überwand er sich selbst, zog den Kopf ein und betrat die Hütte.
Seine Vermutungen bestätigten sich. Der Hüttenboden war raffiniert angelegt worden. Er bildete praktisch eine Mulde, und so konnte Harry sich aufrecht hinstellen, ohne mit dem Kopf irgendwo gegen zu stoßen.
Rocky blieb an der Tür. Er hockte dort, aber seine Haltung war schon angespannt. Beide ließ er nicht aus den Augen. Das Knurren begleitete Harry als Warnung auf seinem kurzen Weg.
Er wußte plötzlich, daß etwas geschehen würde. Es war diese Ahnung, die auch eine Gänsehaut auf seinem Körper hinterlassen hatte. Der Gedanke, eine Falle betreten zu
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