0995 - Die Rache der Toten
der Fassade in die Höhe, in Richtung Sarahs Fenster, als wüßte er genau, daß dort jemand stand, der ihn beobachtete. Sie trat auch nicht zurück. Sie schaute weiterhin zu.
Der Wirt trug die Leiche ins Haus. Die Polizei würde er sicherlich nicht alarmieren und auch keinen Arzt. Man würde Ellen begraben. Still und heimlich, und alle würden den Mund halten in Shortgate, denn jeder wußte, daß es besser und gesünder war, wenn man schwieg.
Gentry kehrte wieder zurück. Er warf den Kofferraumdeckel zu, löschte auch das Licht der Scheinwerfer, ließ seinen Wagen aber auf dem Hinterhof stehen und machte sich auf den Weg zum Haus.
Unten schlug die Haustür hart zu. Lady Sarah hörte das Geräusch, und sie trat wieder vom Fenster weg.
Tief atmete sie ein. In der Luft hing der Geruch von Bohnerwachs und der des Friedhofs. Oder täuschte sie sich?
Sie wußte es nicht genau. Eigentlich weiß ich gar nichts, dachte Sarah und schüttelte den Kopf. Ich habe etwas erlebt, nehme gewisse Dinge an, aber selbst aktiv geworden bin ich nicht.
Über so etwas ärgerte sich die Horror-Oma. Sie wollte oft nicht wahrhaben, daß auch sie ihrem Alter Tribut zollen mußte. So aktiv wie eine junge Frau war sie längst nicht mehr.
»Die Zeiten sind leider vorbei«, murmelte sie und ließ sich zurück auf das Bett fallen.
Ob sie schlafen konnte? Sie hoffte es, denn der morgige Tag würde stressig genug werden…
***
Glück und Pech wechseln sich im Leben ab, und wir standen oder fuhren diesmal auf der glücklichen Seite, denn das Wetter machte uns keinen Strich durch die Rechnung.
Zwar war Schnee angesagt worden, doch bisher war der Süden der Insel davon verschont geblieben, und davon profitierten wir natürlich.
Den Ort Shortgate kannte keiner von uns. Er gehörte zu diesen kleinen Dörfer, die man überall im hügeligen Süden fand. Versteckt in Wäldern oder in Tälern. Die Menschen dort waren bodenständig, manchmal auch verschroben, und viele alte Sagen und Legenden hatten in dieser manchmal verwunschenen Gegend ihren Ursprung gehabt.
Kleine Bäche, Teiche, hohes und dichtes Strauchwerk, oft Verstecke für märchenhafte Wesen. Brücken, die über Wasserstraßen führten und von den Benutzern selbst heruntergelassen werden mußten. Dichte Mischwälder bildeten grüne Lungen, aber als Erholungsgebiet galt diese Gegend nicht unbedingt. Da fuhr man weiter in den Süden, an die Küste, wo bekannte Orte wie Brighton oder Worthing lockten.
Schnee hatten wir nicht bekommen, aber die Sonne kriegten wir auch kaum zu Gesicht. Sie versteckte sich hinter dichten Wolken.
Ich fuhr. Suko hatte es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht und war sogar eingeschlafen.
Im Gegensatz zu Jane Collins, die neben mir saß und ihrer Unruhe kaum Herr werden konnte. Sie versuchte zwar, sich in der Gewalt zu behalten, das aber gelang ihr nur schlecht. Entweder schaute sie aus dem Fenster, oder aber sie spielte mit ihren Händen, wobei sie immer wieder mit den Gelenken knackte. Dafür fing sie sich von mir einen kritischen Seitenblick ein.
»Ja, ja,«, sagte sie irgendwann, »ich weiß, daß du das Geräusch nicht haben kannst. In bin eben nervös.«
Mein Grinsen und die damit verbundene Antwort konnte sie auch nicht aufheitern. »Obwohl wir bei dir sind?«
»Hier geht es nicht um uns.«
»Sondern?«
Jane verdrehte die Augen. Sie wußte, daß ich sie geärgert hatte. »Um Sarah Goldwyn, verdammt! Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß ich Angst um sie habe?«
»Ja, schon.«
»Eben.« Sie schnaufte. »Wenn sie doch nur noch einmal angerufen hätte, verflixt! Aber nein, sie muß wieder mit beiden Beinen in dieses Wespennest hineinspringen. Dabei hat sie uns versprochen, nicht mehr aktiv zu sein.«
»Du kennst sie doch.«
»Das glaubte ich auch.« Jane holte hastig Luft. »Das eine will ich dir sagen, John, wenn wir sie treffen, dann kriegt sie aber was zu hören. Das kann ich dir versprechen.«
Ich winkte ab. »Wenn wir sie treffen.«
»Was meinst du denn damit?«
Ich ging etwas vom Gas, weil eine gefährliche Kurve auftauchte. Ein Verkehrszeichen warnte vor zu hoher Geschwindigkeit. »Wer weiß, wo sie sich herumtreibt.«
»In diesem Altenhotel.«
»Das will ich hoffen.«
Jane runzelte die Stirn. »Bist du denn immer noch skeptisch?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil Sarah Goldwyn nicht den Mund halten kann. Gesetzt den Fall, sie betritt das Hotel und findet irgend etwas, das sie stört. Es ist klar, daß die andere Seite dann reagieren
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