0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
hoch, wieder trat der Schweiß auf seine Stirn, und wieder schlug das Herz schneller als gewöhnlich. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, schaute noch einmal hin und mußte einsehen, daß er sich nicht geirrt hatte.
Noch immer drehten sich die Blätter. Nicht ein Geräusch war dabei zu hören.
David zitterte. Er traute sich nicht, den Kopf zu heben und zur Decke zu schauen.
Noch nicht, aber er wußte, daß er es irgendwann tun würde, und er überwandt sich auch.
Sein Spielzeug hing noch unter der Decke. Es schaukelte hin und her, weil sich die Blätter über dem Dach drehten und dieses Schaukeln verursachten.
David begriff nichts mehr. Er konnte nur staunen. Aber er wußte auch, daß so etwas nicht normal war. Totes Spielzeug erwachte nicht einfach zum Leben. So etwas gab es nicht.
Aber Geister gab es auch nicht -oder?
Und trotzdem drehten sich die Rotoren.
Und das nicht mal langsam, sondern immer schneller. Die Drehungen sorgten für eine noch stärkere Unruhe der Maschine. Sie wollten nicht aufhören. Der ziemlich große, dunkle Hubschrauber bewegte sich hektisch, zu hektisch und zu schnell, und es konnte gefährlich werden, wenn er fiel.
Noch hielt er.
Aber er schwang stärker. Mal nach rechts, dann nach links, und auch die Rotorblätter drehten sich schneller. David hörte sogar die von ihnen verursachten Geräusche, wenn sie durch die Luft schnitten, und er hörte noch mehr.
Der Gesang war wieder da.
Noch lauter, noch schriller und hektischer.
»Christmas Day is coming…«
»Nein!« schrie David. »Nein, ich will es nicht mehr hören. Nein, nein, nein…«
Der Junge glaubte, laut geschrien zu haben. Es war nicht mehr als ein Röcheln.
Und dann riß urplötzlich das Band!
***
Ich hatte Brett McCormick nicht bis zu seinem Haus gefahren, sondern in den Ort, weil er noch einige Besuche vorhatte, wie er auch beim Aussteigen noch nachdrücklich erklärte. Den Weg zum Pfarrhaus hatte er mir beschrieben, und als er den Rover verließ, stieg ich ebenfalls mit aus.
Der große Weihnachtsbaum stand nicht weit entfernt. Seine Lichter erhellten das Grau des allmählich schwindenden Tages, aber sie kamen mir längst nicht mehr freundlich und nett vor. Es waren Lichter ohne Hoffnung, sie leuchteten kalt, als wollten sie irgendwelchen Dämonen oder Teufeln heimstrahlen.
Der Baum war auch nicht weiter geschmückt worden. Weder Kugeln noch Girlanden füllten die Lücken zwischen den grünen Zweigen aus, die sich im leichten Wind bewegten.
»Wollten Sie hören, John, ob die Stimmen noch da sind?«
»Ja, das hatte ich gedacht.«
McCormick schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber. Die singen nur, wenn es ihnen Spaß macht.«
»Das Gefühl habe ich allmählich auch.«
»Aber sie sind da!« sagte McCormick über das Autodach hinweg.
»Darauf können Sie Gift nehmen. Sie bleiben, sie verschwinden nicht mehr, denn morgen haben wir den Heiligen Abend, und ich denke mir, daß es für sie und für uns alle ein besonderes Weihnachtsfest wird.« Er hob einen Finger. »Wir sollten auch nicht vergessen, daß der Heilige Abend um Mitternacht beginnt. Es wäre nicht mal überraschend, wenn es schon um diese Zeit losgehen würde.«
»Meinen Sie damit die Rückkehr der toten oder verlorenen Kinder?«
»Was sonst?«
Ich runzelte die Stirn. »Noch haben wir einige Stunden Zeit. Vielleicht können sie gestoppt werden.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich bin zumindest gespannt darauf, was mir der Reverend erzählen wird.«
»Ja, das dürfen Sie auch, John. Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen.« Er stieß sich vom Dach des Rovers ab, um zu gehen.
»Und wo treffe ich Sie?«
»Wenn ich nicht in meinem Haus bin, versuchen Sie es in der Golden Goose.«
»Okay.«
McCormick nickte mir noch einmal zu. »Viel Glück für uns beide, John.«
»Danke.«
McCormick verließ mich. Ich schaute ihm noch nach, bis er den Gehsteig auf der anderen Seite erreicht hatte. Dann setzte ich mich wieder in den Wagen und fuhr los.
Es hatte sich nichts verändert. Auch weiterhin hielt die Einsamkeit den Ort Paxton gefangen. Im Freien waren kaum Menschen zu sehen, und die parkenden Autos hatten eine Haut aus Reif oder Eis bekommen.
Die Kirche war nicht zu übersehen, und das Pfarrhaus lag von dort nicht weit entfernt. Dort hoffte ich, auf Grace Felder zu treffen, die mir bei meinen Nachforschungen zur Seite stehen würde, wenn es mir gelang, sie zu überzeugen. Damit rechnete ich, denn Grace war eine Person, die lange
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