0999 - Der Mitternachtsfluch
jetzt noch aufzuraffen. Auf dem Weg in die Tiefe überschlugen sich ihre Gedanken.
Die Sorge um ihren Sohn und die Angst vor dem Hubschrauber verschmolzen.
In den letzten Sekunden hatte sie unter einem starken Streß gelitten. Es war ihr nicht mehr möglich gewesen, an die eigentliche Quelle der Gefahr zu denken.
Jetzt aber, wo sie die Treppe hinter sich gelassen hatte, fiel sie ihr wieder ein, und sie kniete neben ihrem Sohn und schaute die Stufen hoch.
Da war er wieder!
Er hatte den Raum verlassen und sie verfolgt. Er war durch den Gang geflogen und stand jetzt dort in der Luft, wo die Treppe aufhörte. Die Rotorblätter kreisten noch immer. Und die Maschine lauerte dort wie ein großer, böser, mordlüsternern Vogel, den die Frau anstarrte.
Bisher hatte sie sich unter Kontrolle gehabt, aber plötzlich brach der Damm. Sie konnte nicht mehr. Irgendwann riß jeder Nerv, auch bei ihr.
Und sie schrie!
»Neeeinnnn!« brüllte sie dem Hubschrauber entgegen, als könnte dieser sie hören. »Nicht schon wieder!«
Wäre der Hubschrauber ein Mensch gewesen, er hätte sicherlich gelacht. So aber reagierte er auf seine Art und Weise. Durch seinen klumpigen Aufbau ging ein Ruck, als hätte er sich selbst ein Startsignal gegeben, dann setzte er sich in Bewegung.
Und plötzlich wurde er schnell. Der nächste Schrei blieb Helen im Hals stecken. Sie ging noch einen Schritt zurück, hatte die Hände in die Höhe gerissen und schaute über sie hinweg auf dieses verfluchte Ding, das so schnell geworden war.
Es kippte nach unten - und erwischte die Hände der Frau. Der Schmerz war schlimm, als die Rotorblätter gegen die Finger und auch gegen die Gelenke schlugen. Plötzlich klatschte Blut in ihr Gesicht. Die Tropfen waren von oben gefallen, und Helen wußte, daß sie aus den Wunden an ihren Händen stammten.
Das Blut rann an den Augen vorbei. Sie wußte nicht, was sie tat. Daß sie in Richtung Haustür lief und ihren Sohn dabei im Stich ließ, war ihr nicht mal richtig bewußt. Sie wollte einfach nur leben und mußte sich selbst retten.
Helen erreichte die Tür. Das Brummen verfolgte sie. Für sie hatte es das schlimme Geräusch einer kreischenden Säge angenommen, die bereit war, ihren Körper zu zerschneiden.
Bevor sie die Haustür aufriß, schlug sie noch einmal um sich. Helen traf auf etwas Hartes. Der Schmerz kurz danach schlitzte ihr wieder die Hand auf, und die Wunde blutete stärker. Nun rammte sie beide Arme nach unten und zerrte die Tür auf.
Ihre Schreie begleiteten sie nach draußen. Die Kälte umklammerte sie, und Helen schwankte wie das berühmte Rohr im Wind. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen. In diesem Augenblick gab es nur sie und die Gestalt des Mannes, die aus der Umgebung erschien, die sie nicht mehr richtig erkennen konnte.
»Helen«, hörte sie noch den Ruf des Mannes. »Allmächtiger, was ist geschehen…?«
Sie konnte keine Antwort geben, denn sie kippte einfach um…
***
»Was ist passiert, Grace?« schrie ich.
Grace Felder schnappte nach Luft. Sie stand noch immer unter dem Schock und hatte Mühe, ihn zu überwinden. Ihr Mund bewegte sich, als sie versuchte, eine Erklärung abzugeben, aber sie mußte schon mehrmals Atem holen, um es zu schaffen. »Ich - ich weiß es nicht!« keuchte sie. Dabei schüttelte sie den Kopf, als wollte sie das Blut aus den Haaren und dem Gesicht entfernen.
Ihr Vater, der Reverend, tat nichts. Er hockte bewegungslos auf dem Stuhl und starrte vor sich hin, als wäre die übrige Welt für ihn nicht mehr vorhanden.
Auch ich war entsetzt. Daß es zu dieser Reaktion kommen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war nur auf das Bild zugegangen, das die Welt der verlorenen Kinder zeigte. Eine kahle, eine weite Welt, in der sich nur eine Person aufhielt.
Eine junge Frau, die der Maler so geschaffen hatte, daß sie dem Betrachter den Rücken zuwandte. Dieses breite Gemälde war wichtig gewesen. Ich hatte herausfinden wollen, wie wichtig. Und ich hatte deshalb mein Taschenmesser genommen und am Kopf der gemalten Figur gekratzt, die durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Grace Felder aufwies.
Dann hatte ich den Schrei gehört, mich gedreht und Grace angesehen.
Eine Frau, die genau an der Stelle blutete, die auch auf dem Bild mit meinem Taschenmesser angekratzt hatte. Das Messer hielt ich noch immer in der Hand, aber der Arm war jetzt nach unten gesunken, und ich starrte die Person an wie einen Fremdkörper.
Grace hatte Mühe, sich zu fangen. Sie wurde mit
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