1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast): Wie ich es trotzdem geschafft habe
die Spuren der Geschichte im Holz und im Lack. Hier auf dem Korpus: War da einem jähzornigen Cellisten der Bogen ausgerutscht? Und da in der Nähe des Stachels: Hatte ein junger Künstler im taumelnden Liebeswahn das Cello unsanft abgestellt? Weiter oben am Steg: In welcher Geigenbauer-Werkstatt hatte ein unbekannter Meister Tage damit zugebracht, neue Lackschichten aufzutragen, um das Instrument zu vervollkommnen? Der Klang des Violoncellos war weich und konturiert wie eine geübte Altstimme, auch in den hohen Lagen waren die Töne präzise und vollmundig, nie gab es einen harten, scheppernden Klang, selbst wenn eine Dilettantin wie ich darauf zum Warmwerden die Tonleitern spielte.
Eine besonders begabte Spielerin war ich nicht, aber das Eintauchen in den Cello-Klang, der von allen Streichinstrumenten der menschlichen Stimme am nächsten kommt, war eine schöne, beglückende Erfahrung. Wenn ich mit dem großen Bogen die Saiten strich, hielt alles um mich herum einen Moment lang inne.
Nach der Geburt des zweiten Kindes hörte ich mit dem Cello-Spielen auf. An die Stelle stiller Versenkung traten kurze Erschöpfungsschläfchen, winzige Kaffeepausen, einmal tief Luftholen zwischen Tagesmutter, Arbeit, Einkaufen, Kinder abholen, Kinderarzt-Besuch, Konzeptpapier durchlesen für die Präsentation am nächsten Tag, Auto zur Werkstatt bringen, Kinder bekochen, Geschichten vorlesen, Telefonate führen – der Cello-Kasten stand in der Ecke des Arbeitszimmers und staubte immer mehr ein. Manchmal noch nahm ich es heraus, um zu prüfen, ob ich die Tonleitern noch fehlerfrei spielen konnte, ja, es ging noch, und irgendwann – irgendwann – würde ich wieder Unterricht nehmen und darauf spielen. Nach der Geburt des vierten Kindes nahm ich das Instrument gar nicht mehr aus dem Kasten heraus.
Als ich mit den Kindern von der Villa am See in die kleine Wohnung zog, nahm ich das Cello aus Renates Haus wieder zu mir. Ich nahm mir fest vor, mich wieder von den Klängen mitnehmen zu lassen, um mir eine kleine Oase inmitten des Lebensgestrüpps, in dem ich umherstrauchelte, zu schaffen. Nur: Ich konnte nicht mehr darauf spielen. Der ganze Irrsinn um mich herum blockierte meine Finger, aus den Saiten zog ich nur quäkende Töne, die Kinder hielten sich die Ohren zu und machten den Vorschlag, das Instrument zum Anfachen des Kartoffelfeuers im Garten zu benutzen. Von seinem Wert wussten sie natürlich nichts.
Jonas’ Füße stießen schon wieder vorne an die Spitzen seiner Schuhe, Frieda musste einen fünfzehn Jahre alten, aus allen Fugen geratenen Waschbeutel mit auf die Klassenfahrt nehmen, Millie behalf sich in der Schule mit bis auf zwei Zentimeter heruntergespitzten Buntstiften, und Tills Hosen waren nun schon zum dritten Mal geflickt worden. Ich saß wieder einmal mit dem Taschenrechner am Küchentisch. Dieser Tisch war eine Art Festung für uns. Er war riesig, stabil und eine schlichte, klassische Schreinerarbeit. Diesen Familientisch hatten Freunde den Kindern und mir gezimmert, einfach so, als Überraschung, damit es wenigstens ein ordentliches Möbelstück in unserer Behausung gab. (Uns fielen die Augen aus dem Kopf, als sie das schöne Stück in unsere Wohnung brachten.) Und in der Tat wurde dieser große Tisch das Herzstück unserer Bleibe. Hier verbrachten wir fünf viel Zeit: Mahlzeiten, Diskussionen, Hausaufgaben machen, Wäsche falten, sogar bügeln. Und ab und an nutzte Millie die große Tischplatte als ihre persönliche Bühne, um mir, während sie mit ihren dünnen Beinchen daraufstand, das neueste Muttertags- oder Weihnachtsgedicht zu deklamieren.
Nun saß ich dort an dem robusten Tisch und ging die monatlichen Ausgaben durch. Dazu gehörten die heute lächerlich anmutenden Raten von fünfundzwanzig Euro, mit denen ich die Kostennote des Anwalts abstotterte, der vergeblich versucht hatte, die Räumungsklage aus der Villa aufzuhalten, und auf dessen Rechnung ich nun alleine sitzengeblieben war. Neben den Fixkosten Miete, Strom, Telefon, Versicherungen, Anwaltskosten saß mir außerdem noch ein monatlich fälliger Betrag von fünfunddreißig Euro im Nacken. Damit bediente ich das Rückführungsdarlehen, das mir meine Hausbank aufgezwängt hatte, nachdem sie von der Firmeninsolvenz des Ehemannes erfahren hatte und nun in Sorge um die stattliche Summe war, mit der ich mein Haushaltskonto hatte überziehen müssen.
Die Kinder schlichen immer zaghaft an mir vorbei, wenn sie mich so sitzen sahen, in der Küche, mit
Weitere Kostenlose Bücher