1 - Schatten im Wasser
pockennarbigen Wasseroberfläche, dass es begonnen hatte, zu regnen. Die Regentropfen trippelten leise auf dem Urwalddach, doch unzählige Lagen von lappigen Blättern schirmten sie gegen die Nässe ab. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Zwielicht.
Etwa zwanzig grasbedeckte Hütten konnte sie zwischen den Bäumen ausmachen. Frauen mit Säuglingen saßen auf dem Boden, zwei andere zerstampften Maniok in einem Holzmörser mit mannshohen Stößeln, dass ihre nackten Brüste schwangen. Männer, die nur ein paar Leder- oder Stoffstreifen zwischen den Beinen trugen, hockten zusammen, rauchten oder dösten, einer schnitzte an einem Pfeil. Ein halbes Dutzend junge Mädchen in wippenden Grasröckchen stoben bei ihrem Anblick kichernd davon. Ob es ihre weiße Haut oder ihre Kleidung war, die sie so erheiterte?
Auch die herumwuselnden nackten Kleinkinder starrten sie aus großen, schwarzen Augen an, als wäre sie eine Erscheinung. Grunzend wühlte sich ein mageres Schwein durch den Morast und knabberte mit feuchter Schnauze ihr Bein an, das ohne Zweifel eine Delikatesse für Borstenviecher darstellte.
»Lass das, fort mit dir!« Sie versetzte ihm einen Tritt und hob ihre Hand, heischte die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner. »Ich 29
benötige ein Boot, um den Fluss hinaufzupaddeln und meinen Vater zu suchen. Ich werde gut dafür bezahlen«, sagte sie auf Französisch und blickte auffordernd von einem zum anderen.
Al e Augen waren auf sie gerichtet, laute Ausrufe des Erstaunens, vermischt mit aufgeregtem Geschnatter, Lachen brandete auf, und sie fühlte sich, als wäre sie in einen lärmenden Vo- gelschwarm geraten. Doch niemand meldete sich als Wortführer, einer rief etwas, es schien eine Frage zu sein, dann verstummten alle wieder. Sie hatte kein einziges Wort verstanden und war sich überhaupt nicht sicher, ob auch nur einer der Leute begriffen hatte, was sie von ihnen wollte. Mit ausholenden Gesten wiederholte sie ihre Worte. »Haben Sie vielleicht meinen Vater gesehen?«, setzte sie hinzu. Das Ergebnis war wieder Stimmengewirr, Kichern hinter vorgehaltener Hand, augenrollende Heiterkeit.
Noch während sie krampfhaft überlegte, wie sie sich verständlich machen sollte, verwandelte sich das sanfte Trommeln der Regentropfen auf dem Blätterdach in ein mächtiges Brausen. Die Regenmassen bahnten sich ihren Weg durch den Blätterschirm, ein Wasserfall ergoss sich über sie, und im Nu war sie klatschnass. Silbriger Nebel umfing sie, dämpfte alle Geräusche und verursachte ihr ein Gefühl von großer Verlassenheit. Schon kribbelte Angst in ihrem Gedärm, als zu ihrer Erleichterung irgendwo aus dem grauen Nichts die Stimme ihres Begleiters brüllte.
»Gnädiges Fräulein, kommen Sie, wir müssen sofort zurück an Bord.«
Nach kurzem innerem Kampf musste sie zugeben, dass er Recht hatte.
Selbst wenn die Eingeborenen etwas wussten und sich ihr verständlich machen könnten, wäre es vollkommen unmöglich, heute weiter in den durchweichten Wald einzudringen. Sie machte einen Schritt und erwartete fast, einen Widerstand zu spüren, so dicht fiel der Regen. »Wo sind Sie?
Ich kann Sie nicht sehen!« Eine Hand berührte sie, und sie griff dankbar zu, folgte ihrem Führer blind, bis sie wieder die Stimme des Matrosen hörte, dieses Mal viel weiter entfernt von ihr.
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»Wir müssen zum Ufer, wo sind Sie? Beeilen Sie sich.«
Als wäre sie gebissen worden, zog sie ihre Hand aus der rauen, schwieligen, die ihre hielt, zurück. »Ich bin hier«, schrie sie, hörte als Antwort aber nur ein paar gemurmelte Worte in der Sprache der Eingeborenen. Es war die tiefe Stimme eines Mannes, und auf seltsame Art beruhigten sie die Worte des Unsichtbaren. Nach kurzem Zaudern streckte sie die Hand wieder aus. Der Mann nahm sie, und bald spürte sie den flüssigen Uferschlamm unter ihren nackten Füßen. Ihr Führer ließ ihre Hand aus seiner gleiten, und sie stand allein im peitschenden Regen. Dreckver-schmiert tauchte der Matrose aus dem Regengrau auf, kaum als menschliche Gestalt zu erkennen. Seine Hände waren leer, ihre Schuhe hatte er augenscheinlich irgendwo fallen lassen, der nachlässige Kerl. Kurz entschlossen hob sie ihre schlammschweren Rockzipfel und verknotete sie über ihrem Bauch. Die klebrigen Blicke des Mannes auf ihre mit zähem, schwarzem Matsch verschmutzten Waden unter den knielangen, spitzenbesetzten Unterhosen ignorierte sie. Was dieser Matrose über sie dachte, war ihr vollkommen gleichgültig. »Nun machen Sie
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