1 - Schatten im Wasser
Nase. Afrika lag hinter dem Horizont, und bald würden sie ihr Ziel erreicht haben. Im
Schlaf seufzte sie tief auf, entspannte sich und wurde ruhiger.
*
Auch der nächste Tag brachte Catherine keinerlei neue Erkenntnis über das Schicksal ihres Vaters. Gelähmt von der Sorge um ihn saß sie tatenlos herum, unfähig, sich in irgendeiner Weise abzulenken. Um dem Mahlstrom ihrer schwarzen Gedanken zu
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entkommen, ging sie mit der Sonne zu Bett und zwang mit eiserner Verbissenheit den Schlaf herbei.
Kurz vor Morgengrauen traf ein Schlag die Bordwand und hallte mit dumpfem Echo durch den Schiffsbauch. Catherine schreckte hoch, warf sich schwer atmend auf dem zerwühlten Laken herum, noch tief in ihren Traum verstrickt; etwas kratzte über die Holzplanken, ein schauerlicher Ton, wie der Schrei einer zu Tode gepeinigten Seele. Das Geräusch zerrte mit schmerzhaften, kleinen Bissen an ihr, sie suchte sich mit ziellosen Armbewegungen zu wehren, setzte sich dann jedoch widerwil ig auf und öffnete die Augen. Es war stockfinster in der Kabine, nicht einmal Konturen konnte sie erkennen. Angestrengt starrte sie ins Dunkel, war sich bewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Papa, bist du's?«, flüsterte sie, lauschte angespannt, hörte aber nur das eintönige Rauschen des großen Stroms, das Klatschen des Wassers gegen den Schiffsrumpf, das vielstimmige Konzert der Baumfrösche.
Gegen ihre Schläfrigkeit kämpfend, versuchte sie sich zu erinnern, was sie gehört hatte. Den Aufprall eines anlegenden Bootes? Ein neugieriges Flusspferd, das an Schlaflosigkeit litt? Oder war es das Gurgeln des Flusses gewesen? Vermutlich hatte doch nur der Matrose, der Wache schob, gehustet oder gefurzt, sagte sie sich und beschloss, trotz der frühen Stunde aufzustehen. Tief in Gedanken schwang sie ihre Beine über den Kojenrand und schob gähnend die Träger des dünnen Nachthemdes auf die Schulter. Sie hob ihren dicken Haarschopf, der ihr bis zur Mitte des Rückens hing, und rieb die Haut unter den nassen Nackenhaaren mit einem Zipfel des Bettlakens trocken. Schlaftrunken wollte sie sich doch wieder entspannt zurücksinken lassen, als ihr einfiel, was verkehrt war.
Ihr Vater schlief nicht in der Nachbarkabine, sondern war irgendwo in dem endlosen, geheimnisvollen Wald verschollen. Mit einem Schlag war sie hellwach. Blindlings strich sie übers Bett, bis sie den dünnen Baumwollstoff ihres Kleides am Fußende fühlte. Sie zerrte es sich über den Kopf und fummelte ungeduldig an den Knopflöchern herum. Als sie endlich alle Knöp-36
fe geschlossen hatte, konnte sie kaum Luft holen. Der Stoff war vom Waschen eingegangen. Mit ausgestreckten Händen tastete sie sich zur Tür, stieg die Stiege hoch zum Deck und stieß die Luke auf.
Der alte Frachtensegler lag tief im Wasser, wiegte sich träge in der Strömung des mächtigen Kongo, die Takelage knarrte. Ein unheimlicher Laut in der lastenden Stil e, denn noch schwieg der Chor der Vögel, aber die Nachttiere waren schon verstummt. Erkennen konnte sie kaum etwas, erst allmählich wuchsen schattenhafte Formen aus der Dunkelheit, wich die samtige Schwärze der Tropennacht dem aufziehenden Tag. Kein Mensch war zu sehen, sie schien allein in dieser modrigen, fremden Welt.
Die Masten mit den aufgewickelten Segeln standen wie Scherenschnitte vor dem kühlen Perlgrau des nahenden Morgens. Sie tastete sich entlang des Geländers zum Heck, lehnte sich weit hinüber, hoffte, den Einbaum ihres Vaters zu entdecken. Doch da war kein Boot, auch nicht das leise Platschen von eintauchenden Paddeln, nur das geschäftige Flüstern des großen Stroms. Sie schaute hinüber zum Ausguck. Der Matrose, der Wache schob, schlief vermutlich wieder selig. Schon mehrfach hatte sie ihn erwischt. Das letzte Mal hatte sie sich ein Laken übergeworfen und war ihm als Gespenst erschienen. Ein flüchtiges Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie an sein Gebrüll und Getue dachte. Al e im Schiff hatte er damit geweckt, sich vom Kapitän eine Kopfnuss eingefangen und musste seitdem immer die unbeliebte Mitternachtswache übernehmen. Einen Tag später strampelte eine fette Kakerlake in ihrem Morgentee. Der Küchenjunge, den sie zur Rede stellte, schwor Stein und Bein, dass nichts außer Teeblättern in dem Getränk gewesen war, als er das Tablett vor ihrer Tür abgestellt hatte. Als sie kurz darauf an Deck ging, begrüßte sie der Matrose, ein untersetzter Mann mit schwarzen Zahnstummeln, mit
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