1 - Schatten im Wasser
Vila Flor wurde von den Sklaven auf einer Art primitiver Sänfte getragen, und gegessen haben sie, was sie im Busch fanden, und das war nicht viel«, las sie laut. »Außerdem gerieten sie mit Eingeborenen aneinander, und die ersten ihrer Leute wurden getötet. Dom de Vila Flors unehelicher Sohn, den er innigst liebte, war zu schwach und wurde den Sklaven, die ihn trugen, zu schwer. Sie ließen ihn einfach im Busch zurück.
Als sein Vater das merkte, bot er jedem, der gewil t war, für den Jungen zurückzugehen, fünfhundert Cruzados. Keiner ging. Das Kind ist al ein in der Wildnis gestorben.« Sie hob ihre Augen vom Buch. »Plötzlich war der Wert des Geldes ein völlig anderer als vorher. Ein Becher Wasser wurde für zehn Cruzados verkauft, ein Kessel mit sechs Quart kostete hundert Silbermünzen, ein kleines Vermögen, und - hör dir das an - die getrocknete Haut einer Ziege war dreimal so viel wert wie das Leben des kleinen de Vila Flor.«
»Was haben die mit einer getrockneten Ziegenhaut angefangen?«, fragte er, nun auch neugierig geworden.
»In Wasser eingeweicht und dann gegessen - igitt!« Sie schüttelte sich.
»Anfanglich hielten sie sich wohl immer dicht in der Nähe der Küste, weil dort die Flüsse am ehesten zu überqueren waren, außerdem konnten sie Krustentiere fangen. Sie aßen sogar gestrandete, in der Sonne faulende Fische.
Meine Güte, da beklage ich mich über den Zustand meiner Kleidung. Die der Schiffbrüchigen bestand nach kurzer Zeit nur noch aus Lumpen, und ihre Haut verbrannte und löste sich in Fetzen. Die Leute starben wie die Fliegen, besonders die geschwächten Sklaven, und bald musste die gute Donna Leonora zu Fuß gehen und auch noch hin und wieder ihre Kinder selbst tragen.«
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»Sie war sicher eine verhätschelte Dame mit zarten Händen und einem empfindsamen Gemüt. Es muss sehr hart für sie gewesen sein«, warf Johann ein.
»Sie soll sich nie beklagt haben. Nach und nach hat sie ihren gesamten Schmuck gegen Wasser und ein paar Bissen Essen eingetauscht.« Beide Arme auf die El bogen gestützt, las sie mit roten Wangen und glänzenden Augen. »Ich muss mir die Situation nur vorstellen. Jemand verkauft ihr Wasser für ein Schmuckstück. Nun aber hat dieser Mann selbst kein Wasser mehr, bald wird er verdursten oder das Schmuckstück erneut eintauschen. Irgendwo entlang ihres Weges wird der letzte Besitzer mit dem Schmuckstück in der Tasche sterben, und da liegt der Schmuck heute noch, obwohl die Knochen dieses Mannes längst zu Staub zerfallen sind.
Kannst du dich denn gar nicht mehr erinnern, ob du dich in der Nähe des Meeres oder im Inland befunden hast?«
»In Küstennähe, das ist sicher.«
»Ah«, rief sie triumphierend und notierte sich etwas in ihrem Tagebuch.
Plötzlich schlug sie mit der Hand auf den Tisch und schob das Buch weg.
»Hier haben die Termiten einen großen Teil herausgefressen. Nein, wie verdrießlich!«
Die zweite Talgkerze spuckte, zischte und verlöschte alsbald. Tintige Schwärze umschloss sie, denn der Mond war noch hinter Wolkenbergen verschwunden. Johann zündete eine weitere Kerze an.
»Wir sollten ins Bett gehen, wir haben nur noch wenige Kerzen«, mahnte er. »Außerdem hat sich das Gewitter verzogen, wir können beruhigt schlafen.« Er stand auf und leerte den Eimer, der im Wohnzimmer unter dem größten Leck gestanden hatte und halb voll gelaufen war, in den Hof.
»Ich muss das Dach reparieren«, murmelte er, »und ich weiß nicht, woher ich die Zeit nehmen soll.«
Catherine ließ sich nur höchst ungern aus dieser atemberaubenden Geschichte reißen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Buch zuzuklappen. »Gut, ich werde morgen versuchen, den fehlenden Teil zusammenzustückeln.« Sie folgte ihm ins Schlafzimmer. Kurz darauf löschte er die Kerze. Inqaba
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lag im Finstern, und sie folgte im Traum den Spuren der unglücklichen Leonora de Vila Flor.
*
Das Gewitter zog andere nach, glühend heiße Sonne wechselte sich mit den heftigsten Regengüssen seit Jahren ab. Die Erde war bald gesättigt, und überall bildeten sich Pfützen und Tümpel. Das Land dampfte, und die Mückenplage explodierte. Johann nagelte die Musselinvorhänge mit Leisten um die Fensterlöcher fest, trotzdem fanden die Insekten mühelos genügend Ritzen und bevölkerten in Scharen das Haus. Nacht für Nacht, obwohl die Temperatur kaum sank, wickelten sie sich fest in ihre Laken, um sich zu schützen. Binnen Minuten schwammen sie in ihrem
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