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1 - Schatten im Wasser

Titel: 1 - Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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Ankerkette rasselte, der Anker wurde gelichtet. Nach der heftigen Regenflut war der Strom angeschwollen, die Strömung so stark, dass sie bis zur Mündung nur Stunden brauchen würden, während sie vorher flussaufwärts Tage benötigt hatten. Der Frachtensegler nahm Kurs aufs offene Meer.
    Ihr Vater blieb allein in seinem nassen Grab zurück.

    *
Catherine stand an der Reling, kerzengerade, und hielt ihr Taschentuch vor den Mund. Blut quoll unter dem weißen Tuch hervor, wo sie sich die Lippen zerbissen hatte. Es drang nicht in ihr Bewusstsein. Auch eine Fliege, die über ihren Handrücken kroch, betrachtete sie teilnahmslos. Doch plötzlich schien nicht nur ein einzelnes Insekt, es schienen tausende über ihren Körper zu wimmeln, sie sah sich vom Blut ihres Vaters bedeckt, spürte, wie unzählige winzige Rüssel es ableckten. Cesar hatte es prophezeit.
    Schwärme unsichtbarer Lebewesen würden über sie herfallen und sie von innen auffressen. Die Bilder der letzten
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    Stunden standen in grellen Farben vor ihr, und eine Lawine von Ekel, Angst und Trauer begrub sie unter sich. Sie hetzte in ihre Kabine.
    Dort riss sie sich das Kleid herunter. Vage erinnerte sie sich an eines der Medizinbücher ihres Vaters, in dem sie gelesen hatte, dass ein berühmter Arzt aus Schottland die Kleidung der Marinematrosen, die oft aus verpesteten Gefangnissen kamen, gebacken hatte. So hatte er verhindert, dass sich das Fleckfieber in der Marine ausbreitete. Backen? Was meinte der Schreiber damit?
    In ihrem Hemd vor dem Waschtisch stehend, goss sie Wasser in die irdene Schüssel und seifte sich von oben bis unten ein, rieb sich danach mit einem Waschlappen ab. Anschließend schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, warf das Kleid mit spitzen Fingern in die Waschschüssel und trug es an Deck. Mit dem Segeltucheimer holte sie Wasser aus dem Fluss und schrubbte und spülte das Kleid, bis sie meinte, das Gewebe durchgerieben zu haben. Sie wrang es aus und trug es hinunter zur Kombüse. »Smutje, ich brauch einen großen Topf mit Wasser«, befahl sie.
    Neugierig sah der Junge zu, wie sie das Kleid hineinlegte und es auseinander zupfte. Dann brachte sie das Wasser zum Sieden. Eine geschlagene halbe Stunde ließ sie das Kleid kochen, rührte dabei häufig um, und später breitete sie es an Deck aus, damit es in der Sonne trocknen konnte.
    Nun stand sie wieder an der Reling und starrte zurück in die Richtung, wo die Leiche ihres Vaters versunken war. Nach einer Weile begannen ihre Augen zu tränen und verwischten ihre Sicht.

    *
    Es herrschte gedrückte Stimmung auf dem Schiff. Die Mannschaft machte stets einen großen Bogen um Catherine, die tagsüber mit leerem Blick im Heck lehnte. Immer noch sah sie den Körper ihres Vaters vor sich, wie er am Grund des großen Flusses dahintrieb. Lange, geisterhafte Ranken umklammerten ihn, immer fester wurde ihre Umarmung, und bald würde sich das
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    Segeltuch zersetzen, und Fische und Wasserkäfer würden ihn in kurzer Zeit auffressen. Falls nicht ein Krokodil ihn vorher riechen und ihn in seine unterirdische Speisekammer zerren würde.
    Weil sie sich vor diesen Bildern zu Tode fürchtete, schlief sie kaum noch.
    Schon die zweite Nacht saß sie jetzt an Deck, versuchte wach zu bleiben und nickte doch immer wieder ein. Morgens weckte sie das Klatschen der Fliegenden Fische, die auf den Holzplanken landeten, und dann begann wieder ein Tag, an dem sie in der Tropenhitze fror, an dem sie so allein war, als wäre sie der letzte Mensch auf Erden.
    Auch heute Morgen stand sie schon stundenlang im Heck, eine schmale, unendlich einsame Gestalt, blickte zurück in ihre Vergangenheit, sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach denen, die sie verloren hatte. Ihre Mutter, Grandpére Jean und nun ihren Vater. Sie nahm weder die spielenden Delphine wahr, die die Carina begleiteten, noch die Möwen, die sich schril um die im Meer schwappenden Küchenabfälle stritten, die der Smutje über die Heckreling gekippt hatte. Sie fühlte sich körperlos und konnte nur an die eisige Leere denken, die vor ihr lag.
    Gegen Nachmittag erst verließ sie ihren Platz, um in ihre Kabine hinabzusteigen, und entdeckte dabei César, der auf den Decksplanken zwischen den Tauen kauerte. Eben wickelte er sich aus dem mit geronnenem Blut verkrusteten Tuch. Mit schlechtem Gewissen, sich in ihrem eigenen Schmerz kaum um ihn gekümmert zu haben, beugte sie sich zu ihm hinunter. Der Verwesungsgestank seiner Wunden verschlug ihr schier den

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