1 - Schatten im Wasser
Atem. Ohne ihn zu berühren, untersuchte sie seinen blaurot angeschwollenen, linken Arm, der besonders schlimm aussah, und entdeckte zu ihrem Entsetzen, dass schwarzköpfige Maden aus den Eiterlöchern krochen. Angeekelt führ sie zurück. Noch nie hatte sie einen Menschen gesehen, der bei lebendigem Leibe von Maden gefressen wurde.
Lange sah der Mann aus Mali Catherine aus großen, brennenden Augen an, als wollte er ihr etwas mitteilen, das er nicht in 78
Worte fassen konnte, er, der ihr die wunderbarsten Märchen erzählt hatte.
Abend für Abend hatte sie neben ihm gesessen, und er hatte mit Worten ein Tor geöffnet und sie in ein Königreich versunkener Zeiten schauen lassen, in eine Welt, die prächtig und prall von Leben war, so bunt, so voller Musik und Wärme. In seiner Heimat war er ein Griot gewesen, ein Märchenerzähler, und ihm fehlten nun die Worte.
Jetzt berührten ihre Blicke einander, und sie spürte ein Kribbeln, eine starke Kraft, die von ihm zu ihr strömte. Es war, als zöge er sie über eine unsichtbare Linie zu sich hinüber. Ein merkwürdiges, unerklärliches, warmes Gefühl. Trost? Hoffnung? Sie vermochte es nicht zu sagen.
Langsam hob er seine heile Hand, lächelte sie an, und dann starb er. Das Lächeln aber blieb auf seinem Gesicht zurück.
In höchster Eile ließ der Kapitän ihn in ein Laken einnähen.
»Warum benutzen Sie kein Segeltuch?«, fragte Catherine aufgebracht.
»Hab nicht genügend«, knurrte er. »War er eigentlich Christ oder Heide?«
Sie wusste es nicht. »Er hat nach den Geboten der Menschlichkeit gelebt«, antwortete sie. Das hatte er wahrlich.
Und so wurde Cesar, der ein Griot gewesen war, der seine Geschichten verloren hatte, und, als er sie wieder fand, die Welt damit verzauberte, mit einem Psalm und einem kurzen Gebet dem Ozean übergeben.
Catherine liefen die Tränen herunter, als sein verhüllter Körper langsam in der Tiefe verschwand. Später versuchte sie Wilma zu erklären, was sie gespürt hatte, kurz vor seinem Tod. »Er wird auf eine Weise über mich wachen. Ich werde ihn nie vergessen«, schloss sie.
»Wie kann er das, wenn er tot ist, außerdem war er nichts weiter als ein primitiver Afrikaner, der nicht einmal lesen und schreiben konnte. Du solltest nicht über solchen Unsinn nachdenken. Mach dir lieber Gedanken darüber, was jetzt aus dir und mir werden soll«, entgegnete ihre Gesellschafterin, übellaunig wie immer.
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Catherine ließ sie stehen und setzte sich an ihren Platz im Heck. Eine seltsame Lethargie hatte sich ihrer bemächtigt, die durch die feuchte Hitze verstärkt wurde.
»Als würde ich in einem warmen Strom schwerelos dahintrei- ben, nichts scheint mehr wirklich«, schrieb sie in ihr Tagebuch, das sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr angerührt hatte. Der • Schmerz hatte sie so ausgefüllt, dass in ihr kein Platz für Worte gewesen war. Doch jetzt flüchtete sie sich zwischen die Seiten.
»Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist, und es interessiert mich auch nicht. Gestern war heute noch morgen, und übermorgen wird morgen gestern sein. Die Zeit verschwimmt, und jeder Tag, der verstreicht, ist angefüllt mit meiner Einsamkeit und Trauer, jeden Tag lasse ich mein bisheriges Leben weiter hinter mir. Wie eine Insel, die allmählich im Meer zu versinken scheint, je weiter man sich mit dem Schiff entfernt, verschwindet die Landschaft meiner sorglosen Kinderjahre hinter dem Horizont. Was soll ich schreiben? Meine Zukunft scheint mir so weit entfernt wie meine Vergangenheit, selbst Konstantin ist nur ein ferner Punkt im Nichts. Ich bin jetzt allein auf der Welt, damit muss ich mich abfinden. Ich hoffe, dass es mir mit der Zeit gelingen wird.«
Wilma war wohl ihre Freundin geworden, aber bekam ein Gehalt von ihr, und wenn sie es ihr nicht mehr zahlen konnte, würde diese es sich nicht leisten können, bei ihr zu bleiben. Außerdem kränkelte sie ständig, hatte mal dies, mal das. Selbst in den Tagen nach dem Tod von Louis le Roux hielt sich Wilma nicht mit Klagen zurück.
»Ich werde hier sterben«, greinte sie, und Catherine musste sich abwenden, um zu verbergen, wie unduldsam sie das Gejammer machte.
Seit dem Tod ihres Vaters schienen ihre Empfindungen abgestorben zu sein, und sie musste sich zwingen, Mitgefühl für Wilma zu heucheln. Nur in ihrem Tagebuch ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Täglich saß sie auf den Tauen an Deck, weil es in der Kabine zu stickig war, und schrieb.
»Kusine Wilma ist mir doch eine
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