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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Reue selbst.
    »Anton, ich hatte Sie doch gewarnt … Na, kommen Sie erst mal rein …«
    Ich trat ein, schloss die Tür hinter mir – selbst darüber machte sich die Frau keine Gedanken. Während ich die Jacke auszog, sah ich mich rasch um, und zwar sowohl in der gewöhnlichen Welt wie auch im Zwielicht.
    Billige Tapeten, ein fadenscheiniger Teppich, alte Stiefel, eine Deckenlampe mit schlichtem durchbrochenem Glasschirm, ein Funktelefon an der Wand, ein billiges Ding aus China. Bescheiden. Sauber. Gewöhnlich. Was bestimmt nicht daran lag, dass die Tätigkeit als Bezirksärztin nicht viel Geld brachte. Eher sehnte sie sich wohl gar nicht nach Behaglichkeit. Schlecht … sehr schlecht.
    In der Zwielicht-Welt machte die Wohnung einen etwas besseren Eindruck. Keine ekelhafte Flora, keine Spuren des Dunkels. Abgesehen natürlich von dem schwarzen Strudel. Er dominierte alles … Ich sah ihn in seiner vollen Größe, vom Stängel, der sich über dem Kopf der jungen Frau drehte, bis hin zur Blüte, die in einer Höhe von dreißig Metern thronte.
    Ich ging hinter Swetlana her in das einzige Zimmer. Hier war es immerhin etwas gemütlicher. Das Sofa – oder besser: das Eckchen unter einer altmodischen Stehlampe – schimmerte in warmem Orange. Über zwei Wände zogen sich, sieben Reihen hoch, Bücherregale … Klar.
    Allmählich fing ich an, sie zu verstehen. Nicht nur als Objekt meiner Arbeit, nicht nur als mögliches Opfer des geheimnisvollen Dunklen Magiers, nicht nur als unfreiwillige Ursache einer Katastrophe, sondern als Menschen. Eine Leseratte, introvertiert und mit Komplexen beladen, voll komischer Ideale und einem kindlichen Glauben an den schönen Prinzen, der sie sucht und unweigerlich finden würde. Die Arbeit als Ärztin, ein paar Freundinnen, ein paar Freunde und sehr, sehr viel Einsamkeit. Gewissenhafte Arbeit wie nach dem Kodex für die Erbauer des Kommunismus, ab und an ein Besuch in einem Café, selten verliebt. Abende, einer wie der andere, verbracht auf dem Sofa, über einem Buch, das Telefon in greifbarer Nähe, in Gesellschaft des seifig-beruhigend brummenden Fernsehers.
    Wie viele ihr noch immer seid, ihr Jungen und Mädchen unbestimmten Alters, erzogen von der Generation der Sechziger. Wie viele ihr seid, unglücklich und unfähig zum Glück. Bedauern möchte man euch, helfen. Euch durchs Zwielicht berühren – nur leicht, kaum spürbar. Euch ein wenig Selbstsicherheit geben, einen Funken Optimismus, ein Gramm Willen, ein Körnchen Ironie. Euch helfen, damit ihr anderen helfen könnt.
    Doch das darf nicht sein.
    Jede Handlung des Guten bedeutet eine Einladung an das Böse, ebenfalls zur Tat zu schreiten. Der Vertrag! Die Wachen! Das Gleichgewicht der Welt!
    Leide oder werde wahnsinnig, verletz das Gesetz, misch dich unter die Menge, verteile ungefragt Geschenke, zwinge das Schicksal in eine andere Bahn und schau, hinter welcher Ecke dir einstige Freunde und verlässliche Feinde entgegenkommen, um dich ins Zwielicht zu schicken. Für immer.
    »Anton, wie geht es Ihrer Mutter?«
    Ach ja. Ich, der Patient Anton Gorodezki, habe eine alte Mutter. Sie leidet an Osteochondrose und einer ganzen Reihe typischer Alterskrankheiten. Und ist ebenfalls bei Swetlana in Behandlung.
    »Gut, alles in Ordnung. Mir geht es irgendwie …«
    »Legen Sie sich hin.«
    Ich zog den Pullover und das Hemd hoch und legte mich aufs Sofa. Swetlana setzte sich neben mich. Mit warmen Fingern fuhr sie mir über den Bauch, um dann meine Leber abzutasten.
    »Tut das weh?«
    »Nein … jetzt nicht.«
    »Wie viel haben Sie getrunken?«
    Ich beantwortete die Fragen, indem ich das Gedächtnis des Mädchens nach den Antworten absuchte. Ich brauchte hier nicht den Sterbenden zu mimen. Ja … dumpfe Schmerzen – nicht sehr stark … Nach dem Essen … Jetzt ist es ein bisschen schlimmer …
    »Momentan ist das noch eine Gastritis, Anton.« Swetlana nahm ihre Hand weg. »Damit ist nicht zu spaßen, das wissen Sie selbst. Ich stelle Ihnen jetzt ein Rezept aus …«
    Sie stand auf, ging zur Tür und nahm an der Garderobe ihre Tasche vom Haken.
    Die ganze Zeit über behielt ich den Strudel im Auge. Nichts passierte, mein Kommen hatte den Höllenwirbel zwar nicht wachsen lassen, aber schwächen konnte ich ihn auch nicht.
    Anton … Die Stimme drang durchs Zwielicht zu mir, ich erkannte Olga. Anton, der Strudel ist um drei Zentimeter geschrumpft. Du hast irgendwie den richtigen Weg gefunden. Denk darüber nach, Anton.
    Den richtigen Weg? Wann?

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