Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
Zweifel.
    »Anton?«
    Mein Blick hatte etwas zu lange auf ihr geruht. Swetlana erstarrte am Herd, auf dem der schwere, im Küchendunst matt gewordene Kessel stand. Nicht, weil sie Angst empfand, denn dieses Gefühl war ihr bereits fremd, da der schwarze Strudel es schon bis zur Neige ausgetrunken hatte. Eher wirkte sie verlegen.
    »Stimmt etwas nicht?«
    »Ja. Mir ist das peinlich, Swetlana. Ich tauche mitten in der Nacht auf, Jammer Ihnen die Ohren voll und bleibe auch noch zum Tee …«
    »Aber ich habe Sie doch gebeten zu bleiben, Anton. Wissen Sie, ich hatte heute einen seltsamen Tag, da will ich nicht allein … Sagen wir, Sie bezahlen mich so für die Untersuchung, ja? Indem Sie hier bei mir sitzen und sich mit mir unterhalten«, präzisierte Swetlana rasch.
    Ich nickte. Jedes Wort hätte ein Fehler sein können.
    Der Strudel ist um weitere fünfzehn Zentimeter kleiner geworden, Anton, du hast die richtige Taktik gewählt!
    Überhaupt nichts hatte ich gewählt, das sollten diese dämlichen Analytiker endlich begreifen! Ich hatte die Fähigkeiten eines Anderen genutzt, um in ein fremdes Haus einzudringen, in ein fremdes Bewusstsein zu kriechen und so meinen Besuch auszudehnen – und jetzt ließ ich mich einfach im Strom treiben.
    In der Hoffnung, dass mich der Fluss dahin brachte, wohin ich musste.
    »Wollen Sie Marmelade, Anton?«
    »Ja …«
    Was für eine aberwitzige Teegesellschaft. Carroll war nichts dagegen! Die aberwitzigsten Teegesellschaften werden nicht in einer Kaninchenhöhle gegeben, an einem Tisch mit einem verrückten Hutmacher, einer Haselmaus und einem Schnapphasen. Eine kleine Küche in einer kleinen Wohnung, Teesud vom Morgen, mit heißem Wasser aufgegossen, Himbeermarmelade aus einem Dreiliterglas – das ist die Bühne, auf der verkannte Schauspieler eine wahrhaft verrückte Teegesellschaft zum Besten geben. Hier – und nur hier – werden Worte gesprochen, die sonst niemals gesagt werden könnten. Hier werden mit der Geste eines Zauberkünstlers kleine gemeine Geheimnisse ans Licht gebracht, werden die Familienskeletts aus dem Büffet geholt, findet sich in der Zuckerdose eine Hand voll Zyankali. Und niemals ergibt sich die Gelegenheit aufzustehen und zu gehen, denn immer wieder wird dir rechtzeitig Tee eingegossen, Marmelade dazu angeboten und die offene Zuckerdose vor dich geschoben.
    »Anton, ich kenne Sie jetzt schon seit einem Jahr …«
    Ein Schatten, ein flüchtiger Schatten der Verwirrung in den Augen der Frau. Das Gehirn füllt gehorsam die Lücken, hält eine Erklärung parat, warum ich, ein sympathischer und netter Mann, nur ihr Patient geblieben bin.
    »Bisher zwar nur durch meine Arbeit, aber jetzt … Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, mit Ihnen zu reden … wie mit einem Nachbarn. Wie mit einem Freund. Ist das in Ordnung?«
    »Natürlich, Sweta.«
    Ein dankbares Lächeln. Die Koseform für meinen Namen kommt einem nicht so schnell über die Lippen – »Antoschka« wäre schon das nächste Stadium, ein zu großer Schritt.
    »Danke, Anton. Weißt du – irgendwie bin ich wirklich nicht mehr ich selbst. Das geht jetzt schon drei Tage so.«
    Natürlich. Wie soll man noch man selbst sein, wenn über einem das Schwert der Nemesis hängt. Der blinden, wütenden, der Macht der toten Götter entglittenen Nemesis.
    »Heute zum Beispiel … Aber lassen wir das …«
    Sie wollte mir von Ignat erzählen. Denn sie verstand nicht, was mit ihr geschah, warum sie beinah mit einer Zufallsbekanntschaft ins Bett gegangen wäre. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Das geht allen Menschen so, die es mit Anderen zu tun bekommen.
    »Swetlana, haben Sie … hast du dich vielleicht mit jemandem gestritten?«
    Ein grobes Vorgehen. Aber ich musste mich beeilen, musste mich einfach beeilen, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Der Wirbel hatte sich stabilisiert und zeigte sogar eine Tendenz zur Abnahme. Trotzdem musste ich mich beeilen.
    »Wie kommst du darauf?«
    Swetlana wunderte sich nicht und hielt die Frage nicht für zu persönlich. Ich zuckte mit den Schultern und suchte nach einer Erklärung.
    »So was habe ich öfter.«
    »Nein, Anton. Ich habe mich mit niemandem gestritten. Ich wüsste gar nicht, mit wem und worüber. Es ist etwas in mir selbst …«
    Da irrst du dich, Mädel. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr du dich da irrst. Über dir hängt ein schwarzer Strudel von solchen Ausmaßen, wie er alle hundert Jahre nur einmal vorkommt. Und das heißt, dass

Weitere Kostenlose Bücher