1 - Wächter der Nacht
Noch hatte ich doch gar nichts gemacht, lediglich den Anlass für diesen Besuch gefunden!
»Anton, haben Sie noch Omes?« Swetlana hatte sich an den Tisch gesetzt und sah mich an.
»Ja, noch ein paar Kapseln«, meinte ich nickend, während ich mein Hemd wieder zurechtzog.
»Gehen Sie jetzt nach Hause und nehmen Sie eine. Morgen kaufen Sie sich neue. Sie müssen sie zwei Wochen lang vor dem Schlafengehen einnehmen.«
Swetlana gehörte offensichtlich zu den Ärzten, die an Tabletten glauben. Mich störte das nicht, da ich diesen Glauben teilte. Wir, die Anderen, stehen der Wissenschaft mit einem irrationalen Respekt gegenüber, sodass wir selbst in den Fällen, in denen elementare magische Handlungen ausreichen würden, zu Analgin und Antibiotika greifen.
»Swetlana … verzeihen Sie meine Frage.« Verlegen wandte ich den Blick ab. »Haben Sie irgendwelche Probleme?«
»Wie kommen Sie darauf, Anton?« Weder hielt sie im Schreiben inne noch sah sie mich an. Aber sie verkrampfte sich.
»Ich hab so den Eindruck. Ist Ihnen irgendjemand zu nahe getreten?«
Die junge Frau legte den Füller weg und schaute mich neugierig und mit einem Anflug von Sympathie an.
»Nein, Anton. Wie kommen Sie denn darauf? Das muss am Winter liegen. Der dauert schon viel zu lange.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, und der Höllenstrudel über ihr schlingerte, schwang gierig seinen Rüssel …
»Der Himmel ist grau, die Welt ist grau. Man hat zu nichts Lust … Alles hat seinen Sinn verloren. Ich bin müde, Anton. Doch wenn erst einmal der Frühling kommt, ist das alles vorbei.«
»Sie leiden an Depressionen, Swetlana«, platzte ich heraus, noch ehe mir klar wurde, dass ich diese Diagnose ihrem Gedächtnis entnommen hatte. Doch das bemerkte die Frau nicht.
»Vermutlich. Doch das ist nichts, was bei Sonnenschein nicht wegginge … Vielen Dank für Ihre Anteilnahme, Anton.«
Diesmal kam das Lächeln schon eher von Herzen, auch wenn es immer noch gequält wirkte.
Anton, minus zehn Zentimeter!, drang Olgas Flüstern durchs Zwielicht zu mir. Der Strudel setzt sich! Anton, die Analytiker arbeiten auf Hochtouren, weiter so!
Was hatte ich richtig gemacht?
Diese Frage ist viel schrecklicher als die Frage: »Was habe ich falsch gemacht?« Wenn du einen Fehler machst, musst du dein Verhalten nur von Grund auf ändern. Wenn du dagegen ins Ziel getroffen hast, ohne zu wissen, warum – dann gute Nacht. Für einen schlechten Schützen, der zufällig ins Schwarze getroffen hat, ist es nicht leicht, sich daran zu erinnern, wie er die Arme gehalten und die Augen zusammengekniffen hat, wie er den Finger angespannt und den Schuss abgefeuert hat – ohne dabei zuzugeben, dass die Kugel von einer Bö des liederlichen Windes ins Ziel getragen wurde.
Ich erwischte mich dabei, wie ich dasaß und Swetlana ansah. Schweigend und ernst erwiderte sie meinen Blick.
»Verzeihen Sie«, sagte ich. »Um Gottes willen, Swetlana, verzeihen Sie. Ich überfalle Sie hier spätabends, mische mich in Sachen ein, die mich nichts angehen …«
»Schon gut. Ich bin sogar ganz froh darüber, Anton. Möchten Sie vielleicht einen Tee?«
Minus zwanzig Zentimeter, Anton! Sag ja!
Selbst diese Zentimeter, um die der irrsinnige Höllenwirbel schrumpfte, bedeuteten ein Geschenk des Schicksals. Das waren Menschenleben. Dutzende, womöglich sogar Hunderte von Leben, der drohenden Katastrophe entrissen. Mir war nicht klar, wie ich das machte, doch ich erhöhte Swetlanas Widerstandskraft gegen das Inferno. Und der Strudel schmolz langsam dahin.
»Danke, Swetlana. Gern.«
Die Frau stand auf und ging in die Küche. Ich folgte ihr. Was ging hier vor?
Anton, wir haben eine vorläufige Analyse …
Im Fenster – die Vorhänge waren bereits zugezogen – meinte ich eine weiße Vogelsilhouette schimmern zu sehen, die über die Wand huschte und Swetlana beobachtete.
Ignat hat sich an das allgemeine Schema gehalten. Komplimente, Interesse, Verehrung, Flirten. Das hat ihr gefallen, aber zu einem Anwachsen des Strudels geführt. Du dagegen, Anton, hast einen anderen Weg gewählt: das Mitgefühl. Noch dazu ein passives Mitgefühl.
Empfehlungen blieben aus, was bedeutete, dass die Analytiker noch keine Schlussfolgerungen gezogen hatten. Immerhin wusste ich jetzt aber, wie ich weiter vorgehen musste. Mit traurigem Blick und mitleidigem Lächeln würde ich meinen Tee trinken und sagen: »Du hast ganz müde Augen, Sweta.«
Wir würden doch zum Du übergehen, oder? Bestimmt. Ohne
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