1 - Wächter der Nacht
man uns das nicht. Wahrscheinlich lässt sich das nur schwer in Worte fassen?«
»Überhaupt nicht. Wenn du in erster Linie an dich denkst, an deine Interessen, dann führt dein Weg zum Dunkel. Wenn du an andere denkst, zum Licht.«
»Und braucht man lange, um dorthin zu kommen? Zum Licht?«
»Ewig.«
»Das sind doch nur Worte, Anton. Nur ein Spiel mit Worten. Was sagt ein erfahrener Dunkler einem Neuling? Vielleicht auch so schöne und zutreffende Worte?«
»Ja. Über die Freiheit. Darüber, dass jeder im Leben den Platz einnimmt, den er verdient. Darüber, dass jede Form von Mitleid erniedrigend ist, dass echte Liebe blind, echte Güte hilflos macht, darüber, dass wirkliche Freiheit bedeutet, frei von allen anderen zu sein.«
»Und stimmt das nicht?«
»Doch.« Ich nickte. »Das ist auch ein Teil der Wahrheit. Sweta, wir können nicht die absolute Wahrheit wählen. Denn sie hat immer zwei Seiten. Alles, was wir haben, ist das Recht, uns derjenigen Lüge zu verweigern, die unangenehmer ist. Weißt du, was ich den Anfängern beim ersten Mal über das Zwielicht sage? Wir treten in es hinein, um Kraft zu bekommen. Und der Preis dafür ist der Verzicht auf den Teil der Wahrheit, den wir nicht akzeptieren wollen. Die Menschen haben es leichter. Millionenmal leichter, mit all ihren Nöten, Problemen und Sorgen, die für uns Andere überhaupt nicht existieren. Die Menschen stehen nicht vor der Wahl: Sie können gut und böse sein, alles hängt vom Augenblick ab, von der Umgebung, von einem am Abend zuvor gelesenen Buch oder vom Beefsteak, das sie zu Mittag gegessen haben. Darum sind sie so leicht zu lenken, kann selbst der schlimmste Schuft leicht zum Licht gebracht und der gütigste und dankbarste Mensch zum Dunkel gedrängt werden. Wir sind es, die wählen müssen.«
»Das habe ich doch bereits getan, Anton. Schließlich bin ich schon ins Zwielicht eingetreten.«
»Stimmt.«
»Warum verstehe ich dann nicht, wo die Grenze ist, worin der Unterschied zwischen mir und irgendeiner Hexe besteht, die an schwarzen Messen teilnimmt? Warum stelle ich diese Fragen?«
»Du wirst sie immer stellen. Am Anfang laut. Später dir selbst. Das geht nicht vorbei, niemals. Wenn du diesen quälenden Fragen entkommen wolltest, hättest du die andere Seite wählen müssen.«
»Ich habe die gewählt, die ich wollte.«
»Ich weiß. Deshalb musst du das ertragen.«
»Das ganze Leben lang?«
»Ja. Und obwohl das lang sein wird, wirst du dich nie daran gewöhnen. Niemals wirst du der Frage entkommen, wie gerechtfertigt jeder einzelne Schritt ist, den du getan hast.«
Drei
Maxim mochte keine Restaurants. Aufgrund seiner Natur nicht. Bei weitem ungezwungener und entspannter fühlte er sich in Bars und Clubs, mitunter sogar in den teureren, wo man auf übertrieben gepflegtes Auftreten jedoch keinen Wert legte. Manche Gäste verhielten sich natürlich selbst in noblen Restaurants wie rote Kommissare während einer Verhandlung mit einem Bourgeois: ohne Manieren, ohne den geringsten Wunsch, sie sich anzueignen. Doch warum sollte er den neureichen Russen aus den Witzen nacheifern?
Die letzte Nacht musste jedoch wieder gutgemacht werden. Seine Frau glaubte entweder tatsächlich an das »wichtige Geschäftstreffen« oder tat zumindest so, als ob. Dennoch plagten ihn leichte Gewissensbisse. Wenn sie doch die Wahrheit wüsste! Wenn sie bloß ahnen würde, wer er eigentlich war und womit er sich befasste!
Maxim konnte ihr nichts sagen. Und musste die seltsame nächtliche Abwesenheit mit denselben Methoden wettmachen, zu denen jeder anständige Ehemann nach einer Nacht bei seiner Geliebten greift. Geschenke, Aufmerksamkeit, Ausgehen. Zum Beispiel in ein gutes, angesehenes Restaurant mit ausgesuchter exotischer Küche, ausländischem Personal, edler Innenausstattung und einer umfangreichen Weinkarte.
Ob Jelena ihn wirklich verdächtigte, sie letzte Nacht betrogen zu haben? Die Frage beschäftigte Maxim zwar, aber nicht in dem Maße, dass er sie laut gestellt hätte. Etwas muss man immer unausgesprochen lassen. Vielleicht würde sie eines Tages die Wahrheit erfahren. Und stolz auf ihn sein.
Vermutlich hegte er jedoch falsche Hoffnungen. Da machte er sich nichts vor. In einer Welt, in der die Ausgeburten des Bösen und des Dunkels hausten, war er der einzige Lichte Ritter, unendlich einsam, bar jeder Möglichkeit, mit jemandem die Wahrheit zu teilen, die sich ihm ab und zu offenbarte. Anfangs hatte Maxim noch darauf gehofft, jemandem zu
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