1 - Wächter der Nacht
begegnen, der war wie er: einem Sehenden im Land der Blinden, einem Wachhund, fähig, in der arglosen Herde den Wolf im Schafspelz zu wittern.
Nein. So jemanden gab es nicht, niemanden gab es, der sich ihm hätte anschließen können.
Und trotzdem legte er die Hände nicht in den Schoß.
»Was meinst du, soll ich das nehmen?«
Maxim schielte auf die Speisekarte. Worum es sich bei einer Malai Kofta handelte, wusste er auch nicht. Doch dergleichen hinderte ihn nie, etwas auszusuchen. Schließlich waren die Zutaten aufgelistet.
»Nimm es. Fleisch mit Sahnesoße.«
»Rindfleisch?«
Im ersten Moment begriff er nicht, dass Jelena nur scherzte. Dann reagierte er auf ihr Schmunzeln. »Bestimmt.«
»Und wenn ich ein Gericht mit Rindfleisch bestelle?«
»Werden sie dich freundlich darauf hinweisen, dass sie es nicht haben«, vermutete Maxim. Die Pflicht, seine Frau zu unterhalten, verlangte ihm nicht viel Mühe ab. Gestaltete sich eher angenehm. Und trotzdem hätte er jetzt mit großem Vergnügen bloß das Lokal im Auge behalten. Irgendwas stimmte hier nicht. Irgendwas schimmerte im Halbdunkel auf, jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken, zwang ihn, zu blinzeln und zu beobachten, ohne Ende zu beobachten …
Konnte das sein?
Normalerweise lagen zwischen seinen Missionen ein paar Monate, ein halbes Jahr. Aber noch am selben Tag …
Doch diese Symptome kannte er nur zu gut.
Maxim steckte die Hand in die Innentasche seines Jacketts, als tastete er nach seiner Brieftasche. Eigentlich trieb ihn jedoch etwas anderes um – ein kleiner Holzdolch, einst voller Eifer, aber ohne jedes Geschick geschnitzt. Eigenhändig hatte er die Waffe glatt gehobelt, noch in seiner Kindheit, ohne zu verstehen, wozu, aber ahnend: Das ist nicht nur ein Spielzeug.
Der Dolch wartete.
Wer war es?
»Max?« In Jelenas Stimme schwang ein Vorwurf mit. »Träumst du?«
Sie stießen an. Ein schlechtes Vorzeichen – wenn Frau und Mann anstoßen, geht der Familie das Geld aus. Aber Maxim litt nicht unter Aberglauben.
Wer also?
Anfänglich hatte er zwei Frauen in Verdacht. Beide sehr sympathisch, sogar schön, aber jede auf ihre Weise. Die etwas kleinere hatte schwarzes Haar, war kräftig gebaut und bewegte sich auf eine eckige, fast männliche Art – als platze sie förmlich vor Energie. Von ihr ging auch das sexuelle Fluidum aus. Die größere war hellblond, ruhiger, zurückhaltender. Und von ganz anderer, eher beruhigender Schönheit.
Maxim fing den aufmerksamen Blick seiner Frau auf und sah woanders hin.
»Lesben«, sagte seine Frau voller Verachtung.
»Was?«
»Guck sie dir doch an! Die Dunkelhaarige, die in den Jeans, ist doch ein halber Kerl.«
In der Tat. Maxim nickte und setzte eine entsprechende Miene auf.
Nicht die. Also doch nicht die. Wer dann, wer?
In einer Ecke des Saals piepte ein Mobiltelefon los, worauf sofort ein Dutzend Leute automatisch nach ihren Handys langten. Maxim folgte dem Klingeln – und der Atem stockte ihm.
Der Mann, der da einsilbig mit leiser Stimme antwortete, war nicht einfach ein Böser. Ihn hüllte von Kopf bis Fuß ein schwarzer Schleier ein, den andere Menschen nicht sehen, den Maxim aber wahrnehmen konnte.
Er verströmte Gefahr, eine dräuende, fürchterliche Gefahr.
Schmerz durchzuckte Maxims Brust.
»Weißt du, Lena, ich würde gern auf einer einsamen Insel leben«, meinte er plötzlich zu seiner eigenen Ü-berraschung.
»Allein?«
»Mit dir, mit den Kindern. Aber sonst niemand. Kein anderer.«
In einem Zug trank er seinen Wein aus, worauf der Kellner ihm sofort nachschenkte.
»Ich würde das nicht wollen«, sagte seine Frau.
»Ich weiß.«
Der Dolch in seiner Tasche lastete jetzt schwer und brannte heiß. Erregung überrollte ihn, heftige, fast sexuelle Erregung. Die nach Entladung verlangte. »Kennst du Edgar Allan Poe?«, fragte Swetlana.
Man hatte uns ohne weiteres eingelassen, damit hatte ich im Grunde nicht gerechnet. Vielleicht handhabte man die Regeln in diesem Restaurant mittlerweile demokratischer, als ich es in Erinnerung hatte, vielleicht mangelte es auch an Gästen.
»Nein. Er ist schon zu lange tot. Aber Semjon hat mal gesagt …«
»Doch nicht Poe als Person. Seine Erzählungen.«
»Der Mann in der Menge«, ahnte ich.
Swetlana lachte leise. »Ja. Du bist jetzt in seiner Lage. Denn du bist gezwungen, an Orten mit vielen Menschen herumzuirren.«
»Noch hängen mir diese Orte nicht zum Halse raus.«
Wir bestellten einen Bailey’s und etwas zu essen.
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