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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Vermutlich brachte das die Kellner auf einen bestimmten Gedanken für den Grund unseres Besuchs: zwei unerfahrene Prostituierte auf Arbeitssuche – aber das ließ mich im Grunde kalt.
    »War er ein Anderer?«
    »Poe? Möglicherweise einer, der nicht initiiert war.«
     
»Es wohnt in manchen körperlosen Dingen
    Ein doppelt Leben: zwiefach und doch eins –
    Ein Abbild jener Wesenheit, darinnen Materie
    und Licht der Kern des Seins«
     
    , trug Sweta leise vor.
    Erstaunt sah ich sie an.
    »Kennst du es?«
    »Was soll ich dir darauf antworten?« Ich hob den Blick und rezitierte feierlich:
     
»Er ist das verkörperte Schweigen – doch er droht
    Mit keiner Macht dir, die man böse heißt;
    Nur wenn des Schicksals Zwang (unzeit’ge Not!)
    Sein Schatten dir erwächst (gewalt’ger Geist, Der in Regionen haust, darin ein Spott
    Des Menschen Macht) – ah, dann empfiehl dich Gott!«
     
    Eine Sekunde lang sahen wir einander an, dann lachten wir gleichzeitig los.
    »Ein kleines literarisches Duell«, bemerkte Swetlana bissig. »Es steht eins zu eins. Schade, dass wir keine Zuschauer haben. Und warum ist Poe nicht initiiert worden?«
    »Unter Dichtern gibt es ohnehin viele potenzielle Andere. Aber manche Kandidaten lässt man lieber als Menschen leben. Poe hatte eine zu labile Psyche. Hätte man ihm unsere Möglichkeiten an die Hand gegeben, hätte man auch gleich einem Pyromanen einen Kanister mit Napalm schenken können. Ich würde noch nicht einmal wagen zu sagen, auf welche Seite er sich gestellt hätte. Am ehesten wäre er wohl für immer ins Zwielicht eingegangen, und zwar sehr schnell.«
    »Und wie leben sie dort? Diejenigen, die dorthin gegangen sind?«
    »Ich weiß es nicht, Swetlana. Wahrscheinlich weiß das niemand. Manchmal trifft man sie in der Zwielicht-Welt, aber zu einer Kommunikation im üblichen Sinne kommt es nicht.«
    »Ich würde das gern herausfinden.« Gedankenverloren ließ Swetlana den Blick durchs Lokal schweifen. »Ist dir hier ein Anderer aufgefallen?«
    »Der Alte hinter mir, mit dem Handy.«
    »Der ist doch nicht alt.«
    »Er ist sehr alt. Ich habe ihn nicht mit den Augen angeschaut.«
    Swetlana biss sich auf die Lippe und kniff die Augen zusammen. Allmählich erwachte der Ehrgeiz in ihr.
    »Das schaff ich noch nicht«, gab sie zu. »Ich krieg noch nicht mal mit, ob er ein Lichter oder ein Dunkler ist.«
    »Ein Dunkler. Nicht aus der Tagwache, aber ein Dunkler. Ein Magier von durchschnittlicher Kraft. Er hat uns übrigens auch bemerkt.«
    »Und was machen wir jetzt?«
    »Wir? Nichts.«
    »Aber er ist doch ein Dunkler!«
    »Ja, und wir sind Lichte. Na und? Als Mitarbeiter der Wache haben wir das Recht, seine Papiere zu überprüfen. Die dürften in Ordnung sein.«
    »Und wann hätten wir das Recht, etwas zu unternehmen?«
    »Nun, wenn er jetzt aufsteht, die Arme schwenkt, sich in einen Dämon verwandelt und anfängt, allen den Kopf abzubeißen …«
    »Anton!«
    »Das ist mein völliger Ernst. Wir haben kein Recht, einen ehrlichen Dunklen Magier daran zu hindern, sich ein wenig zu amüsieren.«
    Der Kellner brachte unser Essen, wir schwiegen. Swetlana aß ohne jeden Appetit.
    »Und wie lange will die Wache so vor ihnen kriechen?«, fragte sie nach einer Weile patzig wie ein verwöhntes Kind.
    »Vor den Dunklen?«
    »Ja.«
    »So lange, bis wir einen entscheidenden Vorteil errungen haben. So lange, wie die Menschen, die zu Anderen werden, auch nur den Bruchteil einer Sekunde zögern, was sie wählen sollen: das Licht oder das Dunkel. Solange die Dunklen nicht altersbedingt einer nach dem anderen wegsterben. So lange, bis sie die Menschen nicht mehr so leicht auf die Seite des Bösen treiben können wie jetzt.«
    »Aber das kommt einer Kapitulation gleich, Anton!«
    »Das bedeutet Neutralität. Status quo. Beide Seiten stehen unter Zeitdruck, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.«
    »Weißt du, der Wilde, der ganz allein diese Panik unter den Dunklen auslöst, ist mir weitaus sympathischer. Soll er doch gegen den Vertrag verstoßen, soll er uns doch unfreiwillig kompromittieren! Aber immerhin kämpft er gegen das Dunkel, verstehst du, er kämpft dagegen! Einer gegen alle!«
    »Hast du dir nicht mal überlegt, warum er Dunkle umbringt, aber keinen Kontakt zu uns aufnimmt?«
    »Nein.«
    »Er sieht uns nicht, Swetlana. Für ihn sind wir Luft.«
    »Er ist halt ein Autodidakt.«
    »Stimmt. Ein begabter Autodidakt. Ein Anderer mit chaotisch hervorbrechenden Fähigkeiten. In der Lage, das Böse zu

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