10 - Das Kloster Der Toten Seelen
seine Gründe hat, Fidelma. Und du kennst die irische Geschichte besser als jeder andere, dem ich begegnet bin. Du wirst dich auch erinnern, daß die Britannier hier einst alles beherrschten. Dann kamen vor zwei Jahrhunderten die Vorfahren meines Volkes aus Gegenden hinter dem östlichen Meer, um das Land hier zu erobern und sich zu unterwerfen. Das waren die Jüten, die Angeln und Sachsen, die man später gemeinhin Angelsachsen nannte. Sie drängten die Britannier immer weiter nach Westen und Norden ab und eigneten sich ihre Gebiete an. Ich verstehe die Gefühle der Vertriebenen. Mein Volk ist ein Kriegsvolk, das die christlichen Werte nur recht oberflächlich angenommen hat. Ich vermute, daß sich die Angelsachsen, auch wenn sie dem neuen Glauben folgen, noch immer vor Wotan fürchten, dem alten Kriegsgott. Und nach wie vor sind sie davon überzeugt, daß der einzige Weg zur Unsterblichkeit darin besteht, mit dem Schwert in der Hand zu sterben und Wotans Namen dabei auf den Lippen zu haben. Nur dieser Weg führt nach Walhall, wo all die Unsterblichen leben.«
Fidelma war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit seiner Rede. »Das hört sich an, als würdest du das auch glauben, Eadulf.«
Eadulf warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich war ein junger Mann, als mich Missionare aus Éireann zum Christentum hinführten, Fidelma. Ich studierte erst in deinem Land, dann in Rom. Du weißt, daß ich, bevor ich Christ wurde, nach dem Erbrecht Friedensrichter von Seaxmund’s Ham war. Man kann nicht so leicht die Traditionen vergessen, in denen man aufgewachsen ist. Wir alle erinnern uns noch daran, wie König Eadbald von Kent wieder zum Wotan-Kult zurückkehrte. Es leben heute noch Leute, die persönlich Zeuge wurden, wie die Ost-Sachsen alle christlichen Missionare umbrachten oder ins Exil jagten.«
»Das ist wahr«, stimmte ihm Fidelma zu. »Doch die meisten Königreiche der Sachsen sind inzwischen zum christlichen Glauben übergetreten.«
Eadulf schüttelte den Kopf.
»Es gibt immer noch eine Reihe von Königreichen, in denen der christliche Glaube nur toleriert wird. Zum Beispiel Mercia, das ist nach wie vor nicht völlig christianisiert. Und obwohl mein Volk den neuen Glauben angenommen hat, kommt es immer wieder zu Kriegen mit den Britanniern. Solche Fehden hat es ständig gegeben, seit wir mit dem Schwert unsere Königreiche aufbauten. Christliche Britannier gegen christliche Sachsen. Es ist uns auch noch frisch im Gedächtnis, wie Athelfrith von den Sachsen den Britannierkönig Selyf, Sohn von Cynan, besiegte. Nach jener Schlacht ging Athelfrith nach Bangor in die große Abtei der Britannier, ließ dort Tausende christlicher Mönche abschlachten und feierte so seinen Sieg. Können uns die Britannier dieses Blutbad verzeihen, Fidelma? Ich glaube nicht. Solange ich mich im Königreich der Britannier befinde, werde ich mich unbehaglich fühlen.«
Sie dachte über seine Ängste nach. »Für die bösen Taten deines Volkes kann man dich nicht verantwortlich machen, Eadulf. Ich glaube, die Britannier sind nicht so engstirnig, daß sie allen Sachsen Schuld an Ereignissen geben, die frühere Generationen zu verantworten haben. Die Britannier haben über Jahrhunderte hinweg am christlichen Glauben festgehalten, auch zur Zeit der römischen Besetzung. Ohne einen gerechtfertigten Grund würden sie niemandem Schaden zufügen. Das Massaker an den Mönchen von Bangor fand im Königreich von Gwynedd im Norden statt. Und wir halten uns im Königreich von Dyfed auf, das im Süden liegt. Dyfed unterhält enge Beziehungen zu Éireann. Und nun hat uns Abt Tryffin von Dewi Sant gebeten, morgen gemeinsam mit ihm zu speisen.«
Eadulf blickte sie überrascht an. »Er hat uns beide zu sich gebeten?«
Fidelma lächelte. »Nun, die Einladung galt vor allem mir, doch man versicherte mir nachdrücklich, daß du mich begleiten sollst, wenn es dein Gesundheitszustand erlaubt. Ich habe das Gefühl, daß irgend etwas den Abt beunruhigt. Er scheint eine gute Seele zu sein. Ich glaube, er möchte mich um Hilfe bitten, hat aber bei unserer Begegnung heute nachmittag nicht die rechte Gelegenheit dazu gefunden.«
Eadulf wirkte konsterniert. »Warum sollten dich die Britannier um Hilfe bitten?«
»Wie ich schon sagte, es gibt enge Beziehungen zwischen Dyfed und Éireann.«
»Als da wären?« bohrte Eadulf weiter.
Da kehrte Bruder Rhodri mit einem Tablett zurück, auf dem sich zwei Schalen heiße Brühe und Brot befanden, und stellte es auf den
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