10 - Das Kloster Der Toten Seelen
war?«
»Nein, das konnte er nicht.«
»Hat er alle Gebäude gründlich durchsucht?«
»Ja. Ihm fiel auf, daß die Kerzen fast alle noch brannten, daß das Essen auf den Tischen stand, halb gegessen. Man hatte offenbar nur wenige Stunden zuvor alles stehen- und liegenlassen. Ratten hatten sich inzwischen breitgemacht. Selbst das Vieh auf dem Hof war verschwunden.«
Fidelma wandte sich nun Gwlyddien zu. »Weshalb mißt du ausgerechnet diesem Vorfall eine solche Bedeutung bei?«
Der König blickte überrascht auf. »Wieso kommst du darauf, daß er mich besonders interessiert?«
»Ich frage mich, warum sich der König von Dyfed über eine kleine religiöse Gemeinschaft und ihren Verbleib Sorgen macht. Du könntest die Angelegenheit doch auch Abt Tryffin überlassen. Aber du scheinst Wert darauf zu legen, daß wir eine Erklärung für das Geschehen finden.«
»Du hast einen scharfen Verstand, eine rasche Auffassungsgabe, Fidelma von Cashel. Richtig, ich habe am Schicksal dieser Gemeinschaft besonderes Interesse.« Er zögerte, als versuchte er, seine Gedanken zu ordnen »Mein Sohn … Mein ältester Sohn heißt Rhun, ein gescheiter Bursche. Vor sechs Monaten beschloß er, dem Kloster Llanpadern beizutreten. Eigentlich hatte ich gedacht, er würde danach streben, die Herrschaft über dieses Land zu übernehmen, mich darin eines Tages abzulösen. Doch dann entschied er sich plötzlich, Mönch zu werden.«
»Und dein Sohn Rhun befindet sich nun unter den Mönchen, die in Llanpadern vermißt werden?« fragte Fidelma.
»So ist es.«
Kurzes Schweigen trat ein. Dann erkundigte sich Fidelma: »Was denkst du selbst darüber, Gwlyddien?«
Der König schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Hexerei, Schwester Fidelma. Und dennoch: Wenn nicht durch Hexerei, wie kann sich eine ganze Klostergemeinschaft sonst plötzlich in Luft auflösen?«
Fidelma lächelte schmerzlich. »Hast du darauf eine Antwort?«
»Es gibt eine Antwort.«
Alle wandten sich nach der fremden, gebieterischen Stimme um, die sich zu Wort gemeldet hatte. Sie gehörte einem jungen Mann, der unbemerkt die Tür geöffnet hatte. Er war groß, mit angenehmen Zügen ausgestattet und hellem Haar, das von einem Silberreif zusammengehalten wurde. Er wirkte wie ein jüngeres Abbild von Gwlyddien, seine Augen leuchteten in der gleichen eindrucksvollen Farbe wie die des Königs. Gwlyddien zeigte mit ungeduldiger Geste auf ihn, als er den Raum betrat.
»Das ist mein jüngerer Sohn, Prinz Cathen.«
Abt Tryffin stellte ihm Fidelma und Eadulf vor.
»Du sagst, daß es eine Antwort auf die Frage deines Vaters gibt?« wollte Fidelma wissen.
»Kannst du die politische Lage des Landes einschätzen?« erwiderte Cathen, wobei er sich auf einen Stuhl fallen ließ.
»Nur sehr wenig«, räumte Fidelma ein.
»Während des letzten Jahrzehnts ist dieses Königreich ständig von unseren nördlichen Nachbarn überfallen worden, den Königen von Ceredigion. Der derzeitige König, Artglys, ist ein ehrgeiziger und grausamer Mann. Sein Sohn und Erbe ist kaum besser. Die beiden verkörpern das Böse geradezu. Einst ist Ceredigion von den Königen von Gwynedd regiert worden, aber dann gab es Streitereien unter den herrschenden Sippen. Ungefähr vor einer Generation gelang es König Artbodgu, die vielen Herrschaftsgebiete von Ceredigion zu einem unabhängigen Königreich zu vereinigen. Seit dem Aufstieg von Artglys, dem Sohn von Artbodgu, trachtet Ceredigion danach, sein Land zu vergrößern, und fällt in viele Nachbarreiche ein. Artglys’ Ehrgeiz besteht darin, sich auch Dyfed einzuverleiben.«
»Wie erklärt das das Verschwinden der Klostergemeinschaft von Llanpadern?« fragte Fidelma.
»Die Krieger von Ceredigion haben uns schon vorher angegriffen und Geiseln genommen.«
»Du meinst also, daß Artglys von Ceredigion für das Geschehene irgendwie verantwortlich ist? Daß die Mönche bei einem Überfall verschleppt wurden?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich sage nur, es ist möglich, daß die Krieger von Ceredigion Llanpadern überfallen haben, um meinen Bruder Rhun als Geisel zu nehmen.«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich«, fügte sein Vater hinzu. »Rhun hat seinen Anspruch auf den Thron aufgegeben, als er Mönch wurde. Warum sollten sie ihn entführen? Um mich unter Druck zu setzen? Meine Feinde wissen, daß ich so schwach nicht bin. Mein Eid als König und das Wohl meines Volkes stehen bei mir an erster Stelle. Was die Überfälle unserer Feinde betrifft, nun,
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