10 - Das Kloster Der Toten Seelen
reichte ihnen Glühwein, den Eadulf als angenehm und wohltuend empfand.
»Wie steht es um deine Gesundheit, Bruder Eadulf?« fragte der Abt, während er sich auf seinem Lehnstuhl niederließ. »Bist du von deinem Sturz an Bord des Schiffes wieder ganz genesen?«
»Ja«, bestätigte ihm Eadulf ernst.
»Ich vermute, daß ihr beide eure Reise nach Canterbury so schnell wie möglich fortsetzen wollt? Ist das so?«
»So ist es«, erwiderte Fidelma. »Sobald wir ein Schiff dorthin ausfindig machen können, natürlich.«
Gedankenverloren nickte der Abt. Dabei trommelte er mit den Fingern auf seine Stuhllehne, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es war ganz offensichtlich, daß ihn eine äußerst wichtige Angelegenheit beschäftigte und es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen.
»Nun …«, setzte er an.
»Nun«, fiel Fidelma ein, »es gibt da eine Sache, bei der du vermutlich unsere Hilfe brauchst.«
Überrascht schaute sie der Abt an. Seine Augen glichen auf einmal schmalen Schlitzen. »Woher weißt du das? Hat es dir jemand erzählt?«
»Man kann es dir von der Stirn ablesen«, entgegnete Fidelma.
Abt Tryffin zuckte mit den Schultern. »Das mag schon sein. Wir stehen hier wahrlich vor einem Rätsel und benötigen dringend den Rat einer Expertin, wie du es bist. Vielleicht findest du eine Erklärung dafür. Doch ehe ich etwas über die Angelegenheit verlautbaren möchte, darf ich dir eine Frage stellen, Schwester Fidelma?«
Fidelma blickte zu Eadulf und entgegnete mit trockenem Humor: »Nicht jede Frage verdient eine Antwort.«
Der Abt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Da hast du wohl recht, Schwester. Ich werde dennoch fragen. Wenn ich dir einen rätselhaften Fall darlege, der dich interessiert, wärst du dann bereit, noch ein paar Tage in diesem Königreich zu bleiben und der Sache auf den Grund zu gehen?«
»Ich begleite eigentlich nur den Abgesandten des Erzbischofs Theodor von Canterbury. Du solltest die Frage lieber ihm stellen«, erwiderte Fidelma und wies auf Eadulf.
Eadulf setzte seinen Weinbecher ab und dachte nach. Es war wohl wahr, daß er sich fast ein Jahr länger als beabsichtigt in Muman aufgehalten hatte, ehe er sich entschloß, nach Canterbury zurückzukehren. Was würde es da schon ausmachen, wenn er noch ein paar Tage im Königreich von Dyfed bliebe? Wahrscheinlich würde es ohnehin eine Weile dauern, bis sie ein geeignetes Schiff fanden. Doch was mochte den Abt derart quälen, daß er sich von Fremden, ja gar von einem Angelsachsen, Aufklärung erhoffte?
Der Abt sah ihn eindringlich an, wartete mit fast unverhohlener Ungeduld auf seine Antwort. »Für eure Dienste wird man sich erkenntlich erweisen«, fügte er rasch hinzu, als hätte sich Eadulf über eine Bezahlung Gedanken gemacht.
»Warum bittest du ausgerechnet Fremde um Hilfe? In Dyfed gibt es sicher genügend kluge Köpfe, die sich mit der Angelegenheit befassen können.« Eadulfs Stimme verriet Beunruhigung.
Hinter einer Wand am Ende des Raumes bewegte sich etwas, ein großer älterer Mann trat hervor. Er hatte die Statur eines Kriegers, und trotz seines Alters hatte sein durchtrainierter Körper viel Jugendliches bewahrt. Seine lockigen weißen Haare zierte ein goldener Reif, seine eindrucksvollen Augen waren hellblau, fast violett, und ließen auf den ersten Blick keine Pupillen erkennen. Seine Kleider waren aus kostbarem Samt, Leinen und Wolle. Offensichtlich handelte es sich um eine Person von hohem Rang.
Eadulf bemerkte, daß sich Fidelma erhoben hatte, also tat er es ihr widerstrebend gleich.
Der Abt hustete nervös. »Ihr befindet euch in Gegenwart von …«
»Gwlyddien, König von Dyfed«, unterbrach ihn Fidelma und verneigte sich.
Der König kam auf sie zu, lächelte herzlich und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. »Du hast ein scharfes Auge, Fidelma von Cashel, und einen wachen Verstand, denn ich bin mir sicher, daß wir uns zuvor noch nie begegnet sind.«
»Nein, doch über den Sohn von Nowy wird unter den Geistlichen dieser Inseln immer voller Respekt gesprochen. War dein Vater nicht auch berühmt dafür, daß er der Kirche große Unterstützung angedeihen ließ?«
Gwlyddien senkte den Kopf. »Ganz gleich, welches Ansehen ich genieße, es gibt nur wenige Anhaltspunkte, an denen du mich erkennen könntest.«
»Das ist wohl wahr. Ich habe dich an dem königlichen Zeichen von Dyfed erkannt, das auf deinem Mantel eingestickt ist, und an dem goldenen Siegelring an deinem Finger. Es war
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