10 - Geheimagent Lennet und der Spinnenbaron
unsere feinen Fremden«, rief sie unhöflich.
Dann wandte sie sich mit einem anmaßenden Blick an Lennet und fügte hinzu: »Und Sie sind wohl der Lakai?«
»Zu Ihren Diensten, Mademoiselle«, antwortete Lennet, indem er sich demütig verbeugte.
»Bernard Champ-Dingsbums, wenn ich mich nicht täusche?«
»Nennen Sie mich ruhig Bick, wenn es Ihnen schwerfällt, sich die richtigen Namen zu merken.«
»Schau an! Sie scheinen nicht ganz so schleimig zu sein wie die anderen. Und das ist also Papa Burton und Mama Burton und die beiden Sprößlinge Burton. Guten Tag, die ganze Gesellschaft. Es ist mir eine Ehre, Sie alle auf Schloß Cresilian zu empfangen. Saint-Amarante behält zwar den Löwenanteil, aber daß Sie hier vorbeikommen, wirft doch noch etwas Gips und Steine ab, mit denen man das Schloß restaurieren kann. Ich bin Lionette de Cresilian. Meine lieben Eltern sind für einige Tage nach Paris gefahren, so daß ich allein das Vergnügen habe, Sie zu begrüßen. Nett von Ihnen. Was möchten Sie jetzt?
Wollen Sie erst Ihre Buden sehen oder das Schloß besichtigen?« Familie Burton hatte der ganzen Rede erstaunt gelauscht. Ihr Staunen stieg noch, als sich Lionette jäh an Lennet wandte.
»Ja, ja, ich habe alles gesagt, was Sie gehört haben, und wenn Sie sich bei Saint-Amarante beschweren wollen, sagen Sie ihm gleich, daß eben nicht jeder die Begabung zum Diener hat.« Dann wandte sie sich wieder an die Burtons.
»Aha, da und unsere feinen Fremden!« rief das Mädchen unhöflich
»Los, los«, sagte sie, »steht nicht so herum. Ihr wollt uns doch in unserem Alltag und in unserer Umwelt erleben.
Dafür muß man nicht nur bezahlen, sondern auch etwas tun. Wir besichtigen gleich das Schloß, dann können wir das abhaken. Wir beginnen, jedem das Seine, bei den einfachen Leuten, im Dienstbotentrakt.«
Zwei Stunden lang ließ Lionette die Gäste herumrennen. Erst durch den Bauernhof, dann durch den Park und schließlich durch das Schloß, wo sie sie unter dem Vorwand, in zeitlicher Reihenfolge vorzugehen, sechsmal vom Keller in den Speicher und wieder zurück in den Keller steigen ließ. Teddy war der erste, der aufgab.
»Das Empire State Building ist noch um einiges höher als. diese alte Baracke, und trotzdem sehe ich nicht ein, warum ich hinaufklettern soll«, maulte er.
Mrs. Burton war die nächste, die aufgab.
»Ich weiß, daß das gut ist zum Abnehmen«, murmelte sie mit erloschener Stimme. »Aber ich glaube, ich kann nicht eine einzige Stufe mehr hinaufsteigen.«
Dann gab auch Jenny auf. Nur Mr. Burton hielt bis zum Schluß durch. Als sie am letzten Dachfenster angekommen waren, machte er es auf und kletterte aufs Dach bis zu einem Kamin. Dort hockte er sich hin und machte eine »Luftaufnahme« von Schloß Cresilian.
Lionette beobachtete ihn fassungslos.
»Monsieur Burton, haben Sie keine Angst, sich den Hals zu brechen?«
»No!« sagte der Amerikaner vergnügt.
»Sind Sie etwa in Ihrer Freizeit Bergsteiger?«
»Yes!« Mister Burton schob seinen Bauch wieder durch das Fenster und sprang mit einer Geschicklichkeit, die bei einem so korpulenten Mann erstaunte, wieder auf den Boden.
Dann trafen sich alle wieder im Salon, einem großen Raum, der mit den Bildern von Ahnen geschmückt war.
»Der dort war Kammerherr, der da Generalleutnant, jener Seeräuber und der große dort, war Kardinal. Aber keiner von ihnen ist jemals Hotelier gewesen.«
»Mademoiselle, könnten wir nicht essen?« fragte Mrs. Burton. »Es ist halb drei. Ich weiß, daß die gesellschaftliche Elite später ißt als die Mittelklasse, aber…«
»Essen?« fragte Lionette erstaunt. »Aber ich kam gerade vom Essen, als Sie ankamen! Ich kann Ihnen im Anrichtezimmer eine Kleinigkeit servieren lassen, wenn Sie wollen. Sonst müssen Sie bis zum Abendbrot warten.«
Von einer widerwilligen Köchin wurde ihnen ein Omelett gebacken. Dann gingen alle auf ihr Zimmer.
Lennet hatte die ganze Zeit über erstaunt zugesehen und zugehört. Er hatte unentwegt den Eindruck, daß hinter dem ganzen Benehmen ein System steckte, aber er kam nicht dahinter, welches.
Er ging zum Stall, wo Lionette gerade dabei war, ein Pferd zu satteln.
»Sie verachten diese armen Leute«, sagte er und tätschelte dem Fuchs den Hals.
Lionette knirschte mit den Zähnen, ihre Augen blitzten vor Zorn und dann sagte sie: »Yes!«
Lennet lächelte. »Warum?«
»O natürlich, Sie können das nicht begreifen! Sie haben sich daran gewöhnt, den Chauffeur zu spielen, und
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