100 - Leichengeflüster
waren ausgewachsene, mannsgroße Gestalten.
Ausschließlich hübsche junge Frauen, mit langen Haaren, geflochtenen Zöpfen,
großen dunklen Augen, ebenmäßigen Gesichtern, edlen Nasen, feingeschnittenen
Mündern, die so echt, so hervorragend ausgearbeitet waren, daß man das Gefühl
hatte, diese schimmernden Lippen würden zum Küssen verlocken ...
Ich war
unfähig, etwas zu sagen. So etwas hatte ich hier in diesem halbzerfallenen Haus
nicht erwartet. Auch Patrick war wie vor den Kopf geschlagen. Der Alte war ein
Künstler. Nur anhand von Beschreibungen und gelegentlichen Abbildungen hatte er
sich dieses private Kabinett geschaffen. Sogar die Kleider jener Zeit waren
stilgerecht nachempfunden. Hier konnte ich mir ein einwandfreies Urteil
erlauben.
Wir gingen an
der Ausstellung der schönen Frauen entlang. Zu jeder Frau gab es eine
Geschichte - die eine oder andere erzählte uns der Alte.
»... alle
haben eins gemeinsam«, schloß er. »Sie waren jung, schön und mußten sterben.
Unschuldig!«
»Es war eine
fürchterliche Zeit«, murmelte Patrick. »Ich kann nicht begreifen, wie Menschen
...«
»Es waren
keine Menschen. Es waren Ungeheuer«, warf der Alte ein. »Eines dieser Ungeheuer
war Jonathan Peter Dolan, der Hexenjäger .« Es klang
wie ein Angriff.
»Dies hier
ist Joan«, sagte der Alte. Wir standen vor einem schlanken, hübschen Mädchen.
Langes, schwarzes Haar rahmte das feine, edle Gesicht. Das Kleid war so
raffiniert geschnitten, daß die kleinen festen Brüste fast zur Hälfte bloß
lagen.
»Neben ihr
Sally, ihre Schwester.«
Sally war
blond. Sie hatte wunderbare blaue Augen, tief und klar wie ein Bergsee. Zwei
Schönheiten, wie sie im Buch standen.
»Beide wurden
zu Tode gequält - und schließlich als Hexen verbrannt... Joan war neunzehn,
Sally zwei Jahre älter...«
Das Kabinett
dieser attraktiven Schönheiten wurde zu einem Schreckensbild, je länger wir
darin blieben. Der Alte hatte 40 der insgesamt 287 Hexen nachgebildet, die auf
das Konto Jonathan Peter Dolans gingen.
Fast
schweigend kehrten wir ins Wohnzimmer zurück. Das Feuer im Kamin war
abgebrannt, und der Alte legte ein paar frische Scheite auf. Knisternd stoben
die Funken auf.
Die drei
Männer tranken ihren Punsch. Ich spürte wieder die ermüdende Wirkung. Mir kam
es so vor, als würde auch Patricks Stimme leiser und schwächer. Wie spät war es
eigentlich? Irgendwie kam mir zu Bewußtsein, daß Mitternacht angebrochen war,
aber so genau kann ich das heute nicht mehr sagen.
Mit einem Mal
schreckte ich auf. Ich hörte ein Geräusch. Jemand stand zwischen den Türpfosten
... eine junge Frau. Die Ähnlichkeit mit der Wachsfigur, die ich vorhin in der
Kammer unten gesehen hatte, war frappierend. Joan! Die hübsche Schwarzhaarige.
Aber sie trug nichts auf dem Leib. Nackt, wie sie war, huschte sie in das Zimmer
- beugte sich über meinen, wie erstarrt sitzenden Freund, streichelte und
liebkoste ihn.
Dann spürte
ich die warmen, zarten Hände einer Frau. Die blonde Sally! Ich versuchte die
Benommenheit abzuschütteln. Der verdammte Punsch nahm meine Sinne gefangen. Ich
habe etwas zu tief ins Glas geschaut, konnte mich aber beim besten Willen nicht
daran erinnern, zuviel getrunken zu haben. Ich erinnerte mich an das alte Haus,
hörte noch das Knistern der brennenden Holzscheite im Kamin, kannte die
Umgebung ... aber der Alte, wo war der Alte ...? Meine
Erinnerung setzte aus, als Sallys Arme sich um meinen Hals schlangen, als ich
ihre heißen, verführerischen Lippen auf meinem Mund spürte. Ein Gefühl von
Zärtlichkeit und Verlangen durchströmte meinen Körper.
Ihr Leib war
mir plötzlich ganz nahe. Ich küßte ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Brüste,
streichelte den makellosen Körper. Es war alles wie ein Traum, in dem das
Sexerlebnis alles beherrscht. Ich rutschte vom Sessel, beugte mich über Sally,
die sich plötzlich mit sanfter Gewalt von mir löste und davonhuschte, ehe ich
es verhindern konnte. Aber ich wollte sie nicht gehen lassen!
Ich sah wie
durch Nebel auch Patrick, der hinter Joan herrannte, die durch die Tür
verschwand, sich dem kahlen Kellergewölbe näherte. Er war weit voraus. Ich
hörte seine Stimme, sein Lachen. Joan erwiderte etwas und lockte ihn - dann
Stille.
Ich war mit
mir und Sally beschäftigt. Sie rannte mir auf Reichweite voran. Als meine
Fingerspitzen sie berührten, zuckte sie zusammen.
Alles ein
Traum, grellte es in meinem Bewußtsein auf. Dieser verrückte Abend und jetzt
dieses ungewöhnliche
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