100 Prozent Anders
Nachttischlampe an und schüttelte mich vor Ekel. Hinter unserem Bett war eine Kakerlakenstraße. Ungefähr 20 Kakerlaken liefen hin und her und verschwanden unter dem Teppichboden. Oh, Scheiße, dachte ich. Wenn Nora das sah, rastete sie komplett aus. Was nun? Ein gutes Mittel gegen Kakerlaken ist Licht. Sie hassen Licht und verziehen sich bei Helligkeit sofort in ihre Löcher. Ich ließ also das Licht an und versuchte mich mit meinem Schlafsack so „kakerlakendicht“ wie möglich einzuwickeln und endlich einzuschlafen.
Irgendwann kam Nora, und ich hörte bald darauf einen Schlag im Bad. „Was ist los?“, fragte ich im Halbschlaf. „Och, nichts. Mir ist bloß mein Schuh runtergefallen“, rief sie aus dem Bad. „Warum hast du denn Licht an?“, wollte Nora wissen. „Ich hab nur vergessen, es auszuschalten, weil ich beim Lesen eingeschlafen bin.“ Das war eine kleine Notlüge von mir.
Am nächsten Morgen erzählte mir Nora, dass sie im Bad eine Kakerlake mit ihrem Schuh zermalmt habe, und ich beichtete ihr meine Story. Das reichte! Das ging so nicht! Ich wollte nicht mitten unter Ungeziefer leben! Ich wollte nach fast drei Wochen in diesem Land einfach nur noch nach Hause. Ich ging zu unserer Betreuerin Alla und fragte sie nach einem Rückflug nach Deutschland. „Was?“, erwiderte sie, „einen Rückflug? Es gibt von Kiew aus keinen Flug nach Deutschland.“ „Egal“, sagte ich, „dann buchen wir eben einen Privatjet. Ich habe keine Lust mehr auf Kakerlaken, rostiges Wasser, in Schmalz gebratenes Fleisch, fettige Wurst und Mehlpampe als Beilage.“ „Hier gibt es aber keinen Privatjet“, erklärte Alla, „wir müssen ihn erst beantragen. Und das kann dauern.“
Ich war außer mir vor Wut! Was für eine Unverschämtheit. Ich war deutscher Staatsbürger und wurde in einem fremden Land gegen meinen Willen festgehalten. Unglaublich! Das habe Konsequenzen, tobte ich. Aber für wen? Sollte ich jetzt bei Gorbatschow anrufen und mich beschweren? Ich fühlte mich total hilflos. In solchen vermeintlich aussichtslosen Momenten ziehe ich mich immer zurück und besinne mich auf meine Herkunft und Erziehung.
Was macht das Leben aus? Was ist lebensnotwendig und was nicht? Diese Fragen stellte ich mir. Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich zwar gerade eine total beschissene Zeit durchmachte, aber Millionen von Russen tagtäglich unter diesen Umständen zu leben hätten. Und ich? Ich verlor schon nach drei Wochen die Nerven? Obwohl ich jeden Abend rund 10 000 Menschen mit meiner Musik glücklich machte und dabei noch ein Vermögen verdiente? Hatte ich überhaupt das Recht, mich wie eine verwöhnte Diva aufzuführen? Ich fragte mich selbst: Wie doof bist du eigentlich, Thomas??
Diese Standpauke, an mich selbst gerichtet, half. Zudem ist jeder Mensch lernfähig. Ich öffnete einfach keinen Kühlschrank mehr. So sah ich auch keine Kakerlaken. Die Verbindung von rostigem Badewasser und blauem Duschgel ergab ein traumhaftes Karibik-Türkis in der Wanne. Und ich erklärte dem Hotelkoch, dass man Hühnerbrust auch ohne Schmalz wunderbar braten könne.
Nora machte für uns alle Spätzle. Der Teig aus Mehl, Eier und Salz, ein Küchenhandtuch, in das kleine Löcher geschnitten wurden, kochendes Salzwasser – und die Spätzle waren nach drei Minuten fertig. Wo war das Problem? Einmal waren in unserer Garderobe alle Getränke „pudelwarm“, und man erklärte uns, dass der Kühlschrank kaputt sei. Was machte mein Freund Guido, der uns begleitete? Er nahm eine Wanne, holte von draußen Schnee und legte die Getränke hinein. Die Russen sahen uns an und waren sprachlos! Geht doch, oder?
Wie so oft bei einer Tournee verging die letzte Woche wie im Flug, und ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich schon über fünf Wochen „on the road“ war.
Ich wollte die Tour bis zum letzten Tag durchziehen, denn meine Fans konnten schließlich nichts für die traurigen Zustände in ihrem Land. Sie fügten sich ihrem Schicksal und erhofften sich durch mein Konzert etwas Abwechslung in ihrem tristen Alltag. Diesem Verhalten gebührte Respekt!
***
Wir kamen am Donnerstag vor Ostern, also am Gründonnerstag, nach Hause, und Ostermontag stand schon die nächste Tournee in Polen an. Ich war müde und leer. Ich wollte mein Leben genießen und nicht die Stunden bis zur nächsten Abreise zählen müssen. Es waren die ersten Apriltage, und für Freitag, Samstag und Sonntag war frühlingshaftes Wetter angekündigt. Sonne und 17 Grad,
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