100 Tage Sex
fernen Land fuhren Annie und ich durch die künstlerisch angehauchten Viertel Denvers. Schließlich glaubten wir das Richtige gefunden zu haben. Von der Straße aus wirkte St. Mark’s Coffeehouse gemütlich und belebt. Kaum hatten wir es betreten, wussten wir, es hatte das Zeug zum neuen Stammcafé. Der Kaffee schmeckte köstlich und ganz eigen, die Musikauswahl war äußerst eklektisch - meilenweit entfernt von dem Gedudel, das andere Cafés auf Geheiß der Konzernzentrale spielen -, und das Publikum hätte nicht interessanter sein können: ein alter Mann, der mit jungen Bohemiens Schach spielte; zwei Punks mit Irokesenschnitt, die sich in einer mir unbekannten Sprache unterhielten (Hebräisch?); Frauen mit Pferdeschwänzen und Militärstiefeln.
Wir hatten unsere Laptops mitgebracht und vereinbart, eine Zeit lang getrennt zu sitzen und für unser Projekt zu
recherchieren. Als ich Annie so allein dasitzen und lesen sah, wurde ich ganz erregt. Sie sah so sexy aus! Und süß. Ich mailte ihr meine Beobachtung. Aus sechs Metern Entfernung konnte ich sehen, wie ihre Augen aufleuchteten, als sie die Mail las.
»Ich bin schon ganz heiß«, antwortete sie mir.
»Ich auch. Ich kann kaum erwarten, dass es Abend wird«, schrieb ich.
»Geht mir auch so.«
Annie und ich standen schon auf Cafés, bevor Starbuck’s Amerika eroberte. Wir hatten sie in den frühen 1990ern in Minneapolis für uns entdeckt. Dort verstand man wirklich etwas von Müßiggang! Die Espressotempel der Stadt schienen schon seit Ewigkeiten zu existieren und wurden von Rastalockenträgern mit Tätowierungen und Piercings bevölkert. Heute erntet so ein Look nicht mal mehr hochgezogene Augenbrauen, damals hatte er etwas geradezu Revolutionäres. Wir hatten vorher beide keine Kaffeehauskultur gekannt, fingen aber sofort Feuer. Stundenlang hingen wir im Muddy Waters herum, dem Café direkt gegenüber unserer Wohnung, tranken Kaffee und spielten Backgammon. Was soll man sonst tun, wenn draußen minus fünfundzwanzig Grad herrschen und die Temperaturen laut Wetterbericht in den nächsten fünf Tagen nicht über minus sechzehn hinauskommen würden? Später in Albuquerque flirteten wir mit verschiedenen Cafés, fanden dann aber neue Freunde, eine Schar schräger Vögel, mit denen wir uns ins Nachtleben stürzten. Für Cafés blieb da keine Zeit mehr.
Nach fünf Jahren New Mexico zogen wir nach Florida, wo kaum ein Espresso aufzutreiben war, geschweige denn
ein Café mit Kaffeehauskultur. Außerdem drehte sich unser Leben jetzt um Joni. In Washington gingen die meisten Wochenenden für die Wohnungssuche drauf, in Baltimore hatten wir uns schon völlig in unseren familiären Kokon eingesponnen.
»Warum sind wir da nicht früher drauf gekommen?«, fragte Annie an diesem Samstag inmitten der Boheme Denvers. »Kaffee und Kekse haben uns sieben Dollar gekostet, dazu kommt noch der Babysitter, dafür haben wir jetzt drei Stunden ganz allein für uns. Wären wir zum Abendessen ausgegangen, hätten wir allein für die Drinks mehr ausgegeben.«
Erst viel später verstand ich den Grund, warum wir früher nicht auf diese Idee gekommen waren: Es war lang her, dass wir uns so sehr umeinander bemüht hatten. Während des Marathons begannen wir, uns wieder stärker als Paar zu fühlen. Jede Nacht feierten wir unsere Liebe - und die höchst willkommenen Folgen dieser Nähe zeigten sich bald in immer neuen Bereichen unseres Zusammenlebens.
An diesem Abend wagten wir ein Experiment.
Mit Seidenlaken?
Nein, mit Salat.
»Ich will heute auf Zack bleiben«, sagte ich auf der Heimfahrt vom Café. »Ich frage mich, ob ein ganz leichtes Abendessen dabei helfen könnte.«
»Das wäre einen Versuch wert«, antwortete Annie. »Schwere Mahlzeiten machen uns wohl beide träge. Sollen wir heute Salat essen?«
Und so bereiteten wir ein Essen zu, das ich normalerweise nie als vollwertige Mahlzeit betrachtet hätte: eine
Platte mit Salatblättern, Feta und gerösteten Walnüssen. Dazu ein Laib Brot und gutes Olivenöl zum Eintunken. Neidisch schielte ich auf die Käsemakkaroni der Mädchen, während ich an meinem Grünzeug knabberte. Doch als ich vom Tisch aufstand, fühlte ich mich erstaunlicherweise gesättigt.
»Ich könnte herumspringen wie ein verdammter Kobold«, staunte ich. »Ich fühle mich federleicht. Energiegeladen.«
»Logisch«, meinte Annie. »Du musst nicht deine ganze Energie dafür aufwenden, ein Riesensteak zu verdauen, dazu eine Ofenkartoffel und drei Bier. Dein
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