100 Tage Sex
Aber wir hatten gelernt.
»Lass uns bald wieder wegfahren«, sagte Annie, als wir das Licht gelöscht und uns auf die Seite gedreht hatten.
»Bald steht ja wieder eine Nacht im Hotel an«, sagte ich ins Dunkle.
»Perfekt«, schnurrte Annie.
Noch am nächsten Tag träumte ich an meinem Schreibtisch im Büro von unserem Hüttenwochenende, vom wilden Hindutempel mit seinen leuchtenden Farben, vom Tanz, von der Musik. Mehreren Freunden, die sich nach dem Aschram erkundigten, antwortete ich: »Ich glaube, ich bin jetzt Hindu.«
»Mit besonderer Vorliebe für die Lehren des Tantra«, witzelte ein Freund per E-Mail.
Meine vorgebliche Bekehrung zum Hinduismus war natürlich nicht ernst gemeint, aber auch nicht sarkastisch. Es wäre zu viel gesagt, wenn ich behauptete, die zwei Tage hätten mein Leben verändert. Aber beeinflusst haben sie es ganz bestimmt. Die ständigen Bewohner des Aschrams und seine Dauergäste fanden dort Inspiration und Frieden. Der Tempel gab ihnen etwas Wertvolles, Wichtiges, Mächtiges. Annie und ich waren keine vierundzwanzig Stunden mit dieser Kraft verbunden gewesen - und jetzt wollten wir mehr.
»Denkst du ans Wochenende zurück?«, mailte Annie mir am Mittag.
»Ja. Ich glaube, ich bin jetzt Hindu«, schrieb ich zurück.
Das bisschen Leben, das man vor und nach der Arbeitszeit herausquetschen konnte, war gespickt mit Mühseligkeiten - so auch der Abend des ersten Werktags nach dem
Aschram. Abendessen. Spülen. Geschichten vorlesen. Und so weiter, bis die Kinder schliefen. Dann duschen, Annie zuerst. Als ich mit meiner schnellen Dusche fertig war und Moschuslotion über meinen Körper verteilt hatte, wartete schon eine schwitzende Flasche India Pale Ale auf meinem Nachttisch. Annie trug ein betörendes schwarzes Negligé und saß mit gekreuzten Beinen auf der Tagesdecke. Wir küssten uns und betraten wenig später diese andere, wunderbare Welt: einen Kirmestunnel der Liebe, eine Achterbahnfahrt auf Rosenblüten. Eine Zeit lang gingen wir ganz darin auf.
»Wow«, staunte Annie, als wir wieder auf der Erde gelandet waren. »Scharf. Toll.«
»Ganz einfach guter Sex, oder?«
»Ja! Verdammt guter Sex.«
Könnte Annie beobachten, was in meinem Hirn vorgeht, hätte sie jetzt wohl so etwas wie einen Bodybuilder nach einer anstrengenden Trainingseinheit gesehen; er ballte die Fäuste und spannte den Bizeps an, betrachtete im Spiegel die Berge, die sich auf seinen Schultern türmten, seinen Sixpack-Bauch, seine Granatapfel-Waden. Ich fragte Annie, ob sie nach einer guten Runde Sex auch stolz sei.
»Ich weiß nicht … Bei Frauen ist das irgendwie komplizierter«, antwortete sie zögernd. »Gute Frage. Da möchte ich ein bisschen drüber nachdenken. Ich maile dir was.«
Glücklich und stolz löschte ich das Licht, drehte mich zur Seite und zog Annie an mich, in Löffelchenstellung.
Am nächsten Nachmittag bekam ich ihre E-Mail.
»Ich habe nie groß darüber nachgedacht, wie Stolz und guter Sex zusammenhängen«, schrieb sie. »Eine Erinnerung:
Ich war in Philadelphia, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt. Ich kam gerade aus einem Feinkostladen und dachte an etwas, das mich lächeln ließ. Da traf ich den Blick eines jungen Mannes. Ich errötete. Er sah mich an und sang: ›I can see clearly now the rain is gone.‹ Und ging. Das war einer dieser Momente, in denen ein Fremder uns zutiefst berührt. Innerhalb eines Sekundenbruchteils fühlte ich mich nicht mehr anonym, sondern sexy. Eine andere Begebenheit spielte sich in Minneapolis ab, als mir ein Mann nachrief: ›Klein und zieeeerlich, genau so mag ich sie!‹
Ich war peinlich berührt, gleichzeitig freute ich mich aber auch diebisch. Ich denke nie daran, dass jemand mich begehrend ansehen könnte. Genau das hatte der Mann aber getan. Diese zwei Kommentare von Unbekannten habe ich über Jahrzehnte bewahrt und mich an sie erinnert, wenn ich einen kleinen Schub Selbstbewusstsein brauchte. An jenen Tagen während der Periode, wenn man sich so aufgedunsen vorkommt. Oder zu Beginn einer Schwangerschaft, wenn es noch keiner weiß und alle einen nur für moppelig halten. An solchen Tagen krame ich diese Bemerkungen aus der Vergangenheit hervor und baue mich an ihnen auf.
Stolz beim Sex. Als habe man einen Job gut erledigt. Wenn ich deinen befriedigten Blick nach dem Orgasmus sehe, denke ich mir manchmal ›Verdammt, bin ich gut‹ oder ›Wer hätte gedacht, dass das so einfach ist?‹. Allerdings haben Frauen beim Sex weniger Grund
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