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1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg

1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg

Titel: 1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Jakob Weiher
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entsprechenden Neigungen davor oder danach an sich feststellen können und hatte sich seither so stark abgelehnt und abgestoßen, dass er so selbst seinen Krebs entwickelt hatte.
    „Wie kannst du dich nur so im Zaun halten, einen solchen Menschen nicht sofort aus der Praxis zu jagen“, sagte ich, „wenn ich so jemanden erwischen würde, ich glaube, ich würde so lange draufschlagen, bis sich nichts mehr bewegen würde.“
    „Oho“, kam die Therapeutin durch, „entdecken wir da etwa versteckte Aggressionen?“
    „Nein“, lächelte ich zu ihr rüber, „ich bin kein aggressiver Mensch. Nur in einer solchen Situationen könnte ich es sicher werden.“
    „Nie mal jemanden verprügelt?“ wollte sie wissen.
    „Nein“, antwortete ich spontan und lachte, „zweimal habe ich jemandem ins Gesicht geschlagen.“
    „Aha!“, grinste sie, „erzähl.“
    „Es wird dich nicht glücklich machen. Der eine war mein Bruder, als er zwölf Jahre alt war. Wir fuhren in Urlaub und mein geliebtes Mofa musste in den Keller. Meine Oma hatte meinem Bruder gesagt, er solle mir dabei helfen, er hatte aber gar keine Lust dazu. So ging ich rückwärts die Treppe hinunter, das Vorderrad zwischen den Beinen, den Lenker in den Händen. Mein Bruder sollte nur am Gepäckträger festhalten. Mitten auf der Treppe grinste der mich blöd an und ließ einfach los. Das Mofa schoss mir zwischen die Beine und die Treppe herunter. Dafür habe ich ihm reflexartig meine Faust ins Gesicht gedrückt.“ „Gut“, grinste sie, „ das hatte dein Bruder dann auch verdient.“
    „Genau das hatte auch meine Oma gesagt.“
    „Und das zweite Mal? Wen hast du da geschlagen?“
    „Meine Cousine“, sagte ich verlegen.
    „Was? Du schlägst Frauen?“ lachte sie, denn sie ahnte schon, dass auch hier keine echte Brutalität im Spiel gewesen war.
    „Keine Frau. Sie war gerade mal zwölf Jahre alt und sie hatte mich ja mehrmals darum gebeten sie zu schlagen. Ich hatte zum Geburtstag Boxhandschuhe bekommen und sie wollte unbedingt mit mir boxen. Sie hüpfte die ganze Zeit vor mir her und fuchtelte mir mit den Boxhandschuhen am Gesicht vorbei. „Komm schon, komm schon...“, forderte sie mich andauernd auf und nach dem dritten Mal verpasste ich ihr eine.“
    Ich musste laut lachen, weil ich ihr Gesicht vor Augen hatte.
    „Sie sah mich erst mit großen Augen an, spuckte dann einen Zahn aus und lief heulend zur Mami.“
    Bruni lachte und wurde dann aber wieder ernst.
    „In der Ausbildung habe ich gelernt, in gewissen Situationen Abstand zu meinen Klienten zu gewinnen. Bei dem, über den wir eben geredet haben, habe ich darüber nachgedacht, die Behandlung abzubrechen, aber mich dann dafür entschieden, ihm zu helfen. In einer Rückführung erkannte er dann die Ursache, warum er es getan hatte und du kannst mir glauben, ich fühlte mit ihm. Sein halbes Leben hat er sich die schlimmsten Selbstvorwürfe gemacht. Jeder Mensch hat seine Schattenseiten. Und so tun wir manchmal Dinge, die wir uns selbst nicht erklären können. Dich vollkommen anzunehmen, auch die schlechten Dinge, die in jedem von uns schlummern, ist der Anfang dazu, uns wirklich zu erkennen und lieben zu lernen.“
    Nach fast einem Kilometer des Schweigens kehrten wir in einer kleinen Dorfkneipe ein, um etwas zu essen. Dort trafen wir auch auf eine der Münchnerinnen. Sie sah etwas angegriffen aus.
    „Ich bin zuckerkrank“, erklärte sie uns, „und ich habe vergessen, mir Insulin zu spritzen. Auf dem Weg geht es mir so gut, dass ich es einfach vergessen habe.“
    Während wir uns mit Brot, Omelette und Kaffee stärkten, kam ihre Gesichtsfarbe langsam wieder zum Vorschein. Bruni bat ihr unsere Hilfe an, aber sie wollte alleine weiter. Also zogen die Psychologin inkognito und ich weiter. Wir unterhielten uns über unsere Erfahrungen auf dem Weg.
    „Wenn ich in den Herbergen übernachte“, sagte Bruni, „denke ich oft nach über die Energien, die in diesen Betten umherschwirren.“
    „Wie meinst du das?“ wollte ich wissen.
    „Du hast doch auch schon viele Pilger und ihre Geschichten kennen gelernt. Nacht für Nacht liegen in diesen Betten, auf diesen Matratzen Menschen, die an ihre Grenzen gehen. Sie liegen damit ihren Motiven, den Weg zu gehen, ihrem Kummer, Sorgen und Nöten.“
    So hatte ich das noch nicht gesehen. Zwar hatte ich schon mal nachts jemanden weinen gehört, aber Bruni hatte Recht. Wenn man sensibel auf solche Energien reagierte, konnte die eine oder andere Nacht sehr

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