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1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg

1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg

Titel: 1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Jakob Weiher
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automatisch gesteuert schaute ich Rüdiger in die Augen und sagte ihm fast wortwörtlich das, was Bruni ihrem Klienten gesagt hatte. Und das erstaunliche war, es schien seine Wirkung zu tun. Rüdigers Verzweiflung schien einem etwas entspannteren Gesichtsausdruck zu weichen. Danach war unsere Unterhaltung beendet. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich habe Rüdiger seit diesem Tag nicht mehr gesehen.
    Ich schlenderte zurück in Richtung meines Hostals und fragte mich kopfschüttelnd:
    „Wer führt hier eigentlich Regie?“
     

Tag 25
     
    Astorga / Rabanal del Camino / Foncebadón
     
    Nach einer wunderbaren Nacht im Einzelzimmer mit eigenem Bad musste ich zuerst an einer Tankstelle nachfragen, wo ich wieder auf den Jakobsweg komme. Mein Reiseführer gab meine heutige Strecke mit achtundzwanzig Kilometern an. Eigentlich kein Problem, wenn ich mich nicht in die Nähe der „Montes de León“ mit einem Höhenunterschied von etwa fünfhundert Metern begeben würde.
    Als ich Astorga auf einem schnurgeraden Kiesweg verließ, wurde ich von einem kleinen Hund begrüßt, der sich langsam und scheu näherte. Mein Schatten stand und ging fast fünf Meter groß vor mir, der Sonnenaufgang war wieder einmal herrlich. Nachdem ich für eine Gruppe Fahrradfahrer Platz gemacht hatte, bemerkte ich vor mir die alte Frau, die nach ihrem Schlaganfall auf dem Weg unterwegs war. Ich hatte gehört, dass sie sich weite, einsame Strecken fahren ließ, da sie auf Hilfe angewiesen war.
    Ich näherte mich ihr und überlegte, was ich wohl sagen sollte. Auf gleicher Höhe mit ihr grüßte ich sie freundlich und wünschte ihr einen schönen Morgen. Sie drehte langsam ihren Kopf zu mir und lächelte.
    „Ich weiß nicht, ob sie mich erkennen, „ sprach ich sie an, „wir sind uns vor ein paar Tagen schon einmal begegnet. Geht es ihnen gut?“
    „Jaja, junger Mann“, antwortete sie, „sicher kann ich mich an sie erinnern. Wir haben uns kurz nach Boadilla del Camino getroffen.“ Den Ortsnamen hatte ich nicht mal mehr gewusst. So gebrechlich die Frau auch ausschaute, ihre Augen funkelten vor Energie und ihr Gedächtnis schien sehr gut zu funktionieren.
    „Kommen sie gut voran?“ Das fragte sie mich.
    „Oh ja. Ich habe sehr viel Glück gehabt bisher. Ich habe keine Probleme.“
    „Dann haben sie einen guten Engel des Weges.“ Das verstand ich nicht ganz und fragte, wie sie das meinte.
    „Auf dem Jakobsweg wird jeder Pilger von seinem eigenen Schutzengel begleitet. Der kennt einen ja sehr gut. Zusätzlich gibt es auf dem Jakobsweg für jeden Pilger einen Engel des Weges. Das sind Engel, die sich auf dem Jakobsweg sehr gut auskennen. Diese beiden Engel geleiten jeden Pilger auf seinem Weg und beschützen ihn.“
    Ihre Stimme klang glasklar und passte gar nicht zu ihrem Äußeren. Dann blieb sie stehen, zog mich an sich heran und sagte:
    „Und meine Engel sind schon alt und nicht mehr so schnell. Darum muss ich langsamer wandern.“ Sie grinste und wies mich an, meinen Weg weiter zu gehen.
    So kurz die Begegnung auch war, so eindrucksvoll übermannte sie mich. Ich musste unweigerlich über die Art von Problemen nachdenken, die einem Probleme zu sein schienen. Und sich dann diese Frau ansehen und anhören. Sie setzte hier auf dem Weg sprichwörtlich einen Fuß vor den anderen. Und sie schien mit ihrem Schicksal nicht im Geringsten zu hadern. Im Gegenteil — sie machte diese Reise ja aus Dankbarkeit. Das verrückte einiges in mir, und ich verbrachte die nächsten Meter mit feuchten Augen.

    Ich war froh in einem Streckenabschnitt zu sein, der wieder einmal sehr einsam war. So begegnete ich nicht vielen Pilgern und hatte Zeit nachzudenken. Das Nachdenken auf dem Weg ist so eine Sache. Beim stetigen Wandern kommt es ganz auf deine Stimmung an, was du denkst. Es ist auch nicht so, dass du bewusst denkst — und das ist eine für mich faszinierende Sache. Mir sind in der Zeit des Wanderns Gedanken in den Kopf gekommen, die scheinbar automatisch losgelassen wurden. Und es machte sich in mir auch oft der Eindruck breit, es handele sich um Gedanken, die ich längst einmal hätte denken sollen. So als hätten diese Gedanken irgendwo festgesessen und würden nun durch die klare Sicht freigespült. In unserem hektischen Treiben zu Hause in Familie, Beruf und Freizeit bleibt für manche Gedanken einfach keine Zeit. Wenn sie aber wichtig sind, setzen sie sich irgendwo fest und warten darauf, gedacht zu werden. Und das unbewusste „nicht mehr

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