1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg
er vermutete, dass unser Gespräch noch am gleichen Tag im Internet stehen würde. Aber meine Befürchtung war unbegründet.
„Ich berichte hauptsächlich von meinen eigenen Erlebnissen“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Das ist wahr. Auch auf den Fotos ist niemand wirklich zu erkennen“, verteidigte mich die Schüchterne, die fast jede Gelegenheit nutzte, ins Internet zu schauen, „nur von einer Monica berichtest du sehr intensiv.“ Da hatte sie wohl Recht, nur Monica wusste Bescheid und war damit einverstanden gewesen.
Bevor es Zeit fürs Bett wurde, saßen wir alle noch draußen im Garten und leerten die Reste des Rotweins vom Essen. Auch der Herbergsvater saß bei uns und gab einige Geschichten von seinen zahlreichen Reisen auf dem Jakobsweg zum Besten. Sie waren intensiv, rührend und humorvoll, genau so, wie auch ich meine Reise bisher bezeichnen würde. Ich schaute in die Runde.
Hier saßen zehn Personen, die sich zum größten Teil gestern noch nicht kannten so entspannt und vertraut beieinander, als seien sie seit Jahren die besten Freunde - es schienen auf dem Jakobsweg nur ganz besondere Menschen unterwegs zu sein.
Tag 24
Villar de Mazarife / Hospital de Órbigo / Astorga
Nach einem kurzen, aber reichhaltigem Frühstück und mit den besten Wünschen des Herbergsvaters machte ich mich nach einer ruhigen Nacht wieder auf den Weg. Heute standen mir laut meinem Reiseführer genau einunddreißig Komma eins Kilometer bevor. Die dreihundertelf, oder einunddreißig-eins ist mein Geburtsdatum und gleichzeitig meine Glückszahl.
Also war ich heute Morgen ganz besonders froher Erwartung unterwegs. Der Weg führte zuerst durch weite Landschaften schnurgeradeaus. Auf dem Schotterweg konnte ich etwa fünf Kilometer weit schauen und entdeckte mehrere Pilger voraus. Dann vernahm ich Schritte hinter mir, die schnell näher kamen. Immer wenn mich jemand zu Fuß auf einer Geraden überholte, waren es entweder Einheimische ohne Rucksack, oder ältere belgische Landsleute gewesen. So war es auch diesmal — fast.
Ein junger Mann mit roter Baskenmütze und einer farblich hervorragend passenden Media Markt Tüte schritt an mir vorbei. Ich dachte noch darüber nach, was er da wohl drin verstaut habe, doch er entfernte sich schnell von mir. Genauso schnell näherte ich mich einem Pilger, der körperliche Probleme zu haben schien. Als ich näher kam, erkannte ich Bruni.
„Guten Morgen“, begrüßte ich sie, „geht’s dir gut?“
„Ich laufe heute Morgen nicht ganz rund“, lächelte sie, „ mein nächtlicher Ausflug in den Graben hat einige Blessuren hinterlassen.“
Wir kamen ins Gespräch und nach einer Weile war mein Tempo ihr Tempo — oder war es umgekehrt? Sie war interessant und witzig. Ihren Ehemann hatte sie auf dem Weg einige Tage zuvor „verloren“, wie sie es nannte. Sie wusste nicht einmal, ob er vor ihr unterwegs war, oder hinter ihr. Sie hatte in den Herbergen Nachrichten hinterlassen und hoffte auf Nachrichten von ihm zu stoßen. Aber so richtig Sorgen schien ihr das nicht zu machen.
„In einem Restaurant hatte er sich einer Bedienung gegenüber total daneben benommen“, sagte sie, „so kannte ich ihn gar nicht — einfach unmöglich. Als würde er bei uns in Stuttgart im fünf Sterne Hotel sitzen und würde schlecht bedient“, Bruni fuchtelte mit ihren Armen umher, „dabei saß er in einer Dorfkneipe, wo wir fürs Mittagsessen fünf Euro bezahlt haben.“
Danach hatten sie sich gestritten und den nächsten Tag in unterschiedlichem Tempo verbracht.
„Und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen“, sagte sie amüsiert, „was mich bisher aber gar nicht gestört hat, denn
Wir erreichten den Ort Hospital de Órbigo bei strahlendem Sonnenschein um die frühe Mittagszeit. Der Ort hätte für ein oder zwei Tage Urlaub getaugt. Gemütlich rustikal, mit vielen Blumen geschmückt und einer Sehenswürdigkeit mit einer besonderen Geschichte.
Die zwanzigbogige Brücke „Puente de Órbigo“ ist die längste Brücke am Jakobsweg. Im vierzehnten Jahrhundert hatte es einen Ritter gegeben, der sich, wegen der unglücklichen Liebe zu einer Edeldame, mit neun anderen Rittern geschworen hatte, sich über einen bestimmten Zeitraum mit jedem Herausforderer zu duellieren. Auf dieser Brücke kam es dann zu fast einhundertsiebzig Lanzenkämpfen. Ob es dem liebeskranken Ritter danach besser ging, weiß man nicht.
Während Bruni und ich die Brücke überquerten, stellte ich mir vor,
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