1000 Kilometer auf dem 1000-jährigen Weg
zahlreichen Türmen und einem kleinen Wassergraben rundherum, das „Museo de los Caminos“. In dem Bau, der ursprünglich als Bischofspalast geplant war, werden seit 1963 Ausstellungsstücke über den Jakobsweg gezeigt.
Ich genoss im Schatten sitzend die Szenerie, bis mir von einem der Tische aus dem gegenüber liegenden Café jemand zuwinkte. Männlich, ähnlich spärliche Frisur wie ich — ach, das war Rüdiger. Ich schlenderte zu ihm herüber und er lud mich zum Kaffee ein.
„Wir begegnen uns aber auch immer wieder“, sagte er lächelnd. Da hatte er recht. Er war der einzige, den ich am zweiten Wandertag kennen gelernt hatte und mit dem ich an meinem heutigen dreiundzwanzigsten Tag immer noch Kontakt hatte. Wie hatte Monica einmal gesagt, man begegnet den Menschen auf dem Weg solange, wie man sich noch etwas zu sagen hat — und danach nicht mehr.
Rüdiger begleitete mich in die Herberge, in der er untergekommen war, doch die war dicht. Kaum zu glauben, denn dieses Refugio verfügte über zweihundert Betten. Ich verabredete mich mit Rüdiger zum Abendessen und suchte weiter. Die zweite Herberge war auch schon belegt.
„Toll“, dachte ich, „jetzt habe ich mir mal bei meiner Ankunft Zeit gelassen und die Stimmung genossen, und als Dank krieg ich kein Bett mehr.“
Meine Füße schmerzten, als ich ziellos um eine Ecke bog und ein riesiges Schild auf ein Hostal in einhundertfünfzig Metern rechts hinwies. Ich grinste mir einen, dachte an die Unterhaltung mit Bruni und besorgte mir ein Einzelzimmer.
Nach der ausgiebigen Benutzung eines eigenen Badezimmers machte ich mich wieder auf zum Hauptplatz. Dort angekommen, blieb ich einen Moment vor der beleuchteten Kathedrale stehen, die in diesem Halblicht zwischen Scheinwerfern und untergehenden Sonne einfach toll aussah. Ich entdeckte Rüdiger und wir suchten uns ein Restaurant. Es war das erste Mal, dass er und ich uns alleine unterhalten konnten. Und so gestaltete sich unsere Unterhaltung bei einem hervorragenden Pilgermenü anders als erwartet.
Wir kamen schnell auf unsere Motive diesen Weg zu gehen. Ich hatte dazu wieder nicht wirklich viel zu sagen, und so erzählte Rüdiger.
Er war in Belgien in der Automobilindustrie tätig gewesen, bis seine Firma vor zwei Monaten zumachte. Er erhielt eine hohe Abfindung und war mit viel Zeit auf den Jakobsweg gegangen, um sich darüber klar zu werden, was er mit seinen achtunddreißig Jahren in Zukunft machen wollte. Er erzählte von seinem Elternhaus, seiner Schwester, die von seinen Eltern immer bevorzugt worden war. Sie ist eine erfolgreiche Designerin geworden, und seinem Vater hatte er es nie recht machen können. Er war unverheiratet und hatte keine Kinder. Als er darüber berichtete, bekam er feuchte Augen. Ich tat erst, als würde ich es nicht bemerken, aber als ich erkannte, dass es ihm nichts ausmachte, schaute ich in seine glänzenden Augen.
„Viele Söhne können es ihren Eltern, speziell ihren Vätern nie recht machen“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich selbst bin froh, dass ich solche Ambitionen nie hatte und es fällt mir deshalb auch schwer, mich in eine solche Situation hinein zu versetzen. Er schwieg eine Minute lang.
„Aber ich bin ja auch ein Arschloch.“ Jetzt war ich überrascht.
„So ein Blödsinn“, antwortete ich, „niemand ist ein Arschloch, wenn er nicht so wird, wie die Eltern das wollen. Die Welt wäre voller Arschlöcher.“
„Du weißt ja gar nicht, was ich getan habe.“ Jetzt schaute er mich an und mir wurde etwas mulmig. Ich hatte das starke Gefühl, gar nicht wissen zu wollen, was er damit meinte.
„Das habe ich noch nie jemanden erzählt.“ Seine Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Dann mach’ es hypothetisch“, versuchte ich ihm zu helfen. Rüdiger wandte sich hin und her. Am liebsten wäre mir gewesen, wir hätten das Thema gewechselt.
„Nehmen wir einmal hypothetisch an, ich hätte mich vor vielen Jahren an einem kleinen Mädchen vergriffen. Dann wäre ich doch Zeit meines Lebens ein Arschloch, oder?“
Meine Ahnung, gar nicht wissen zu wollen, was er zu sagen hatte, war bestätigt. Normalerweise wäre ich jetzt aufgestanden und hätte das Restaurant verlassen. Aber zwei Dinge schossen mir fast gleichzeitig durch den Kopf.
Zum einen, was Monica mir gesagt hatte „man begegnet den Menschen auf dem Weg so lange, wie man sich noch etwas zu sagen hat — danach nicht mehr“ und zum anderen die Unterhaltung mit Bruni von heute.
Wie
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