1002 - Das weiße Schiff
Herstellung solcher „Schiffsnahrung" zu unterbinden. Er war sich der Gefahr bewußt, daß er dadurch die Empfänglichkeit der betroffenen Betschiden für andere Angstzustände erhöhte.
Da gab es die, die immer befürchteten, im Boden steckenzubleiben, wie auch die, die ganz im Gegenteil meinten, immer ein kleines Stück über dem Boden zu schweben. Sie empfanden das als keineswegs angenehm und kämpften dagegen an. Die Folge waren komplizierte Knochenbrüche.
Die nächste Stufe bildeten die, die nur noch in enger Gemeinschaft mit anderen Betschiden leben konnten. Die „Schiffsbewohner", die nicht wahrhaben mochten, daß sie sich auf einem Planeten befanden, zogen es ohnehin vor, in „Gemeinschaftskabinen" zu hausen. In einer Hütte, die einem Jägerteam viel zu eng gewesen wäre, konnten sich zehn bis zwölf „Schiffsbewohner" ausgesprochen wohl fühlen. Kam diese spezielle Angst hinzu, dann wurden auch die letzten Trennwände niedergerissen. Betschiden, die an dieser speziellen Angst litten, kannten nur noch eine Sehnsucht: Sich zwischen andere Betschiden zu drängen und in ständigem Hautkontakt mit ihnen zu bleiben.
Die schwerste und fast immer tödliche Form dieser rätselhaften Krankheit aber äußerte sich in der Angst, einfach davongetrieben zu werden. Die Kranken verloren das Gefühl für das Gewicht ihres eigenen Körpers, und sie befürchteten, daß der Boden unter ihren Füßen sie nicht länger festhalten, sondern von sich stoßen würde.
Besonders der Anblick des weiten, leeren Himmels von Chircool schürte diese Angst.
Als man Lars O'Marn fand, da hatte er sich, um sich einen festeren Halt zu verschaffen, bereits so tief in den Schlamm hineingewühlt, daß er unweigerlich binnen der nächsten Sekunden erstickt wäre.
Lars schien die Anwesenheit des Heilers gar nicht wahrzunehmen. Er starrte vor sich hin. An seinem Gesicht war abzulesen, was er dachte und fühlte: Er hatte jede Hoffnung aufgegeben. Lars O'Marn wartete auf den Tod und hätte ihn wahrscheinlich sogar freudig begrüßt, weil er ein Ende seiner Qual bedeutete.
„Du wirst noch lange nicht sterben", sagte Doc Ming zu dem Jungen, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. „Wir werden jetzt etwas versuchen, was dir möglicherweise helfen wird. Du brauchst keine Angst zu haben."
Lars reagierte nicht.
Der Heiler begann, die Fesseln zu lösen. Er war ständig darauf gefaßt, daß der Junge sich losreißen würde, aber Lars ließ willenlos alles mit sich geschehen. Doc Ming öffnete die hohle Frucht und ließ den Jungen eine tüchtige Dosis der betäubenden Pollen einatmen, ehe er die letzte Fessel aufknüpfte. Das Mittel wirkte sofort. Es machte nicht bewußtlos, sondern lahmte nur die Willenskraft eines Menschen. Der ohnehin teilnahmslose Junge war nach dieser Dosis nicht einmal mehr imstande, aus eigenem Antrieb auch nur einen Finger zu rühren.
Doc Ming legte einen Arm um den Jungen und führte ihn Schritt für Schritt aus der Hütte hinaus. Unsicher blickte er zu dem Schiff hinüber. Die rötlichen Strahlen der tiefstehenden Sonne zauberten seltsame Lichtreflexe auf die weiße Hülle. Wie ein merkwürdig geformter Berg erhob sich das Schiff über dem Dorf und ließ die Hütten der Betschiden winzig und zerbrechlich aussehen.
Für einen Augenblick glaubte Doc Ming, in der offenstehenden Schleuse eine Bewegung ausmachen zu können, aber die weiße Rampe blieb leer. Hastig wandte er sich ab und führte Lars in die entgegengesetzte Richtung. Er umging die Rampe, über die die Betschiden ihre Verstorbenen in die unergründlichen Tiefen der nördlichen Schlucht gleiten ließen, und erreichte gerade den Rand des Dschungels, als hinter ihm die Hölle losbrach. Er schob Lars in ein Gebüsch, schlüpfte hastig hinterher und drehte sich dann um.
Der Lärm kam von Süden, und er konnte nicht erkennen, was ihn verursachte, weil ihm die Hütten im Wege standen. Aber er sah die fünf riesigen Wolfslöwen, die plötzlich auf der Dorfstraße standen, unmittelbar neben der Hütte, aus der Doc Ming erst vor wenigen Minuten den kranken Jungen herausgeführt hatte.
Es war unmöglich, daß die Fremden die Entfernung vom Schiff bis zur Straße so schnell überwunden hatten. Doc Ming vermutete, daß sie schon vorher dagewesen waren und sich versteckt hatten.
Der Lärm kam näher, und einige Betschiden verloren die Nerven. Sie kamen aus ihren Hütten hervor und liefen auf die Schlucht zu. Sie rannten den Wolfslöwen direkt in die Arme. Die Fremden
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