1004 - Das Phantom in der Fremde
Templer-Säule nicht mehr. Suko wußte es nicht genau, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, daß sein Freund John Sinclair daran die Schuld trug.
Als sie das leise Knacken hörten schraken beide zusammen. Es war vom Kopf her aufgeklungen, aber die Person hatte dabei nicht die Zähne bewegt.
Dr. Quinn schüttelte sich und umfaßte Sukos Arm, damit er ihr den nötigen Halt gab. »Ich kenne das Geräusch«, hauchte sie.
»Wenn Knochen brechen, entsteht es.«
»Sie haben recht.« Suko wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen das Gesicht. »Da, schauen Sie.«
Die Knochen waren in der Höhe der Wangen gebrochen. Genau dort passierte auch etwas, denn da sackten die beiden Gesichtshälften zusammen. Es bildeten sich regelrechte Mulden. Gleichzeitig riß die braune, weiche und rissige Haut, dünnte aus, wurde wieder zu einem Sirup, der sich rechts und links des Kopfes verteilte.
Dr. Margret Quinn drehte ihren Kopf zur Seite. Sie konnte und sie wollte nicht mehr hinschauen, während Suko seinen Blick nicht mehr vom Kopf der Frau wegnahm.
Er wußte genau, daß diese Auflösung nicht von ungefähr kam. Sie hatte etwas zu bedeuten. Ein Gesicht zerfiel nicht grundlos, denn zu einem Gesicht oder einem Kopf gehörte auch ein Gehirn. Darin waren die Erinnerungen gespeichert.
Suko erinnerte sich plötzlich daran, was er bei der Auflösung des Schattens gesehen hatte. Obwohl beide verschiedenen Gruppen angehörten, konnte er sich vorstellen, daß die Erinnerungen dieser Frau auf eine unerklärliche und wirklich mystische Weise sichtbar wurden.
Möglicherweise durch die Augen…
Noch hatten sie ihre Plätze in den Höhlen eingenommen. Aber die Masse in den Pupillen fing an zu zittern. Sie vibrierte wie dünner, dunkler Pudding, ohne allerdings rechts und links aus den Höhlen hervorzuquellen.
Dafür zerbrach unter der Haut wieder das Gebein.
An der Stirn, im Kopf. Das Knacken war nicht zu überhören, und dann fiel der Schädel zusammen. Plötzlich war auch das veränderte Gesicht nicht mehr vorhanden. Für Suko sah es aus, als würde die Haut wegschwimmen, aber sie war auch weiterhin vorhanden. Allerdings wurde sie von der Flüssigkeit überschwemmt, die aus den Augen trat und an dunkles Öl erinnerte.
»Das gibt es doch nicht«, flüsterte die Ärztin. »Das ist ja grauenhaft. Dann der Geruch…«
Sie hatte recht. Suko schnupperte. Es war ein Gestank, wie er ihn noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Da vermischten sich zwei Komponenten.
Einmal der Geruch von Verwesung, aber nicht so nach einem Toten riechend, sondern mehr nach sterbender Natur.
Und zum zweiten der Geruch – nach Honig!
Dr. Quinn trat wieder an Suko heran. »Meine Güte, Suko, riechen Sie das?«
»Ja.«
»Und?«
»Soll ich Ihnen sagen, daß es nach Honig riecht?«
Die Ärztin atmete stöhnend ein. »Ja, das sollen Sie. Dann weiß ich nämlich, daß ich mich nicht geirrt habe. Es riecht nach Honig. Nach einem verdammten Honig.« Sie konnte nicht mehr anders und mußte schrill lachen. »So etwas, also so etwas…«
»Sagen Sie nichts, bitte.«
»Warum nicht? Sollen wir nicht gemeinsam nach einer Erklärung suchen, Suko?«
»Es hat keinen Sinn. Wir müssen es so hinnehmen, wie es ist. Glauben Sie mir.«
»Und wie ist es?«
»Anders.«
»Das ist doch keine Antwort.«
Suko wußte das selbst, aber unter seinem nächsten Blick verstummte die Frau.
Die Flüssigkeit aus den Augen hatte sich mittlerweile immer weiter ausgebreitet. Es glich schon einem Phänomen, daß so etwas überhaupt geschehen konnte. Die Masse mußte sich nicht nur in den Augen gesammelt haben, sondern auch im Kopf der Frau mit dem Namen Alischa. Die Augen waren nur so etwas wie die Türen ins Freie gewesen.
Das Zeug breitete sich in alle Richtungen hin aus. Von den Resten des Gesichts war nichts mehr zu sehen, und keiner von ihnen hörte mehr dieses schreckliche Brechen der Knochen.
Nur die Flüssigkeit mit ihrer rotbraunen Farbe war da. So rotbraun wie das alte Blut des Lalibela, des Königs, der schon als Baby von Bienen umschwärmt gewesen war.
Bienen und Honig.
Beides gehörte auch zusammen. Deshalb war dieser Geruch für Suko auch nicht so fremd. Er sah ihn eher als eine Erinnerung an Lalibela an. Zugleich schaffte er es nicht, seinen Blick von der Flüssigkeit zu reißen.
Das Gesicht mit seinen veränderten und verunstalteten Zügen war jetzt völlig unter der dunklen Masse verschwunden. Nicht mal mehr Umrisse waren zu sehen.
Es floß auch nichts mehr hinzu.
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