1005 - Im Bann des alten Königs
sickerte.
Es kostete schon Überwindung, seine warme, lebendige Hand gegen die kalte Haut des Toten zu legen. Es kam zu einer ersten flüchtigen Berührung.
Suko strich über die Stirn und näherte sich den veränderten Augen. Er sah noch immer die Lichtpunkte der Lampe in den Pupillen, und er wartete darauf, daß sich der Tote wieder bemerkbar machte, mochte dieser gurgelnde Schrei auch noch so schlimm auf ihn gewirkt haben.
Der untere Kiefer war etwas nach unten geklappt. Als hätte sich der Mund verzerrt, um nicht mehr zurück in die alte Stellung zu gelangen. Suko konnte, wenn er den Kopf in einen bestimmten Winkel legte, in den Mund hineinschauen.
Eine Höhle.
Tot und leer…
Nichts, kein Laut drang mehr nach draußen. Bis zu einem bestimmten Augenblick.
Suko zuckte zurück, als tief in der Kehle etwas geboren wurde, als wäre es vom Teufel persönlich entlassen worden.
Ein fürchterlicher Laut. Ähnlich wie der letzte, aber trotzdem anders. Denn was da nach draußen und an Sukos Ohren drang, hörte sich so an, als versuchte jemand, aus diesen abstrakten Geräuschen etwas zu formen. Worte, einen Satz oder ähnliches. Eine Stimme, eine Botschaft, alles in einem.
Suko hörte zu.
Das Gurgeln.
Das Stöhnen.
Und das Wort.
»John!«
Zuerst nur abgehackt, dann aber länger, auch tiefer. Geboren wie in einer Gruft.
»Johhhnnnnnn…!«
Suko hörte zu, und er glaubte fest, so etwas Schlimmes noch nie erlebt zu haben. Es war einfach grauenhaft, denn dieser gräßliche Schrei, dieses schon schreckliche Wort hallte durch den Raum und wurde als Echo von den Wänden zurückgeworfen.
Der Schrei ebbte ab.
Suko wartete noch immer wie eine Steinsäule. Er wollte abwarten, doch in seinem Innern war die Peitsche da. Durch den Kopf rannen die Gedanken, aber er bekam sie nicht mehr in die Reihe.
Warten? Gehen?
Er wußte es nicht. Was er auch tat, es konnte alles verkehrt sein.
Also entschied er sich für die erste Möglichkeit und wartete ab, ob sich der Tote noch einmal »meldete«.
Der Inspektor hatte sich wieder gefangen. Der Kiefer war in der ursprünglichen Haltung geblieben und nicht nach unten gesunken.
Das wächserne Gesicht, die dunklen, fremden Totenaugen, der offene Mund. So bot Horace F. Sinclair ein mehr als makabres Bild. Jeden Augenblick konnten hier die Leichenwäscher erscheinen, Suko zur Seite räumen und den Toten anheben. Eine Vorstellung die für einen zusätzlichen Schauer bei ihm sorgte.
Es kam niemand.
Mit den beiden Leichen blieb er allein zurück. So vergingen die nächsten Sekunden, und auch Suko kam sich vor wie in einer Grabkammer eingeschlossen.
Blieb der Tote still?
Warten…
Sekunden verstrichen. Der kalte Schauer auf Sukos Rücken hatte sich gelegt. Der Inspektor trat wieder einen kleinen Schritt zurück.
Noch immer wartete er. Seine Hände wurden kalt. Sie wirkten wie mit dünnem Wachs oder Leichenfett überzogen. Im Magen lag ein Druck. Suko atmete durch die Nase. Die Luft roch leicht nach Verwesung. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Auf ihn wirkte das Licht der Deckenleuchte wie ein kalter Spiegel, der überall seinen Platz gefunden hatte und in jede Ecke strahlte.
Seine Hände bewegten sich. Die Finger zitterten leicht. Die Augen hielt er offen. Säure war in sie hineingetropft. Er hatte das Gefühl, als würden sie brennen.
Noch einmal Luft holen.
Wieder gegen das wächserne Gesicht starren. Mein Gott, dachte Suko, hier liegt Johns toter Vater und schreit nach seinem…
Er konnte den Gedanken nicht mehr beenden. Denn plötzlich gurgelte und dröhnte es tief in der Kehle des Toten auf. Es war ein noch schrecklicheres Geräusch als beim erstenmal. Furchtbar, kaum zu fassen, kaum nachzuvollziehen.
Das grabhafte Röhren, der unbeschreibliche Laut, langgezogen, heulend, wie von einem Tier stammend, um anschließend wieder in ein einziges Wort überzugehen.
»Johnnnn!«
Suko schauderte zusammen. Jetzt, wo er diesen Schrei wieder gehört hatte, da konnte er sich vorstellen, was er zu bedeuten hatte.
Der tote und von Lalibelas Geist besessene Horace F. Sinclair hatte Kontakt mit seinem Sohn bekommen oder aufgenommen. Vielleicht spürte oder sah er ihn.
Vielleicht aber kam noch etwas ganz anderes hinzu.
Eine tiefgreifende Angst vor dem Tod des Sohnes…
***
Wir waren wieder gegangen. Ich wußte nicht, wohin mich Mikail führte, aber wir blieben in der Stadt, auch wenn wir uns durch dessen Außenbezirke bewegten, wo die Zeit einfach stehengeblieben
Weitere Kostenlose Bücher