1005 - Im Bann des alten Königs
einer Ahnung sprechen, auch nicht von einem Wissen. Es war mehr ein Gefühl und zugleich drängte es ihn, auf die zweite Tür zuzuschreiten.
Er ging durch den kahlen Gang. Zwei Zellen gab es hier. Sie lagen auf der linken Seite. Er sah die Türen mit den vergitterten Öffnungen.
Wichtig war die Tür am Ende des Ganges.
Davor blieb er stehen.
Er hob den Arm, streckte die Hand aus und ließ sie für einen Moment über der Klinke schweben.
Alles war so normal. Nichts hatte sich verändert. Trotzdem kam sich Suko vor wie ein Schauspieler, der jede normale Bewegung noch einmal durch seine Gesten unterstrich.
Er spürte die Kühle des Klinkengriffs sehr deutlich – und seine Hand zuckte zurück.
Er hatte etwas gehört.
Ein Geräusch.
Für ihn nicht zu identifizieren, weil es keine Worte waren. Aber das Geräusch war nicht neben oder hinter ihm erklungen, sondern vor ihm. Also jenseits der Tür.
Nur – dort befand sich niemand.
Bis auf die beiden Toten!
Plötzlich klemmte sich etwas in seinem Magen fest. Er merkte, wie ihn das leichte Zittern überkam. Es lag nicht nur daran, daß er sich vorstellte, wer diese Laute abgegeben hatte, für ihn war wichtig, daß er die beiden Personen kannte.
Tote…
Oder waren sie nicht tot?
Suko schloß für einen Moment die Augen. Er zählte innerlich bis fünf, konzentrierte sich nicht mehr auf das, was um ihn herum vorging, sondern auf sich allein.
Dann öffnete er die Tür.
Das Licht brannte. Es stahl ich durch den Spalt und ließ auf dem Boden einen helle Linie zurück, die schnell breiter wurde, als Suko die Tür weiter öffnete.
Er warf einen Blick auf die zweckentfremdete Leichenkammer.
Der Stein fiel ihm vom Herzen, denn der tote Horace F. Sinclair lag noch immer an derselben Stelle. Er hatte sich um keinen Millimeter bewegt.
Auch die braunen, so fremden Augen waren noch vorhanden. Keine Veränderung.
Habe ich mich geirrt? fragte er sich. Habe ich mir die komischen Geräusche eingebildet? Sind meine Nerven schon so angesägt?
Er wußte es nicht. Es war auch nicht mehr so wichtig für ihn. Er hatte gesehen, daß sich nichts verändert hatte, und er nahm die ungewöhnlichen Laute als Täuschung hin.
Überzeugt war Suko davon nicht, denn er blieb noch an der Tür stehen und wartete, den Blick auf die beiden Leichen gerichtet, aber mit ihnen geschah nichts.
»Ggggrrrrrr…«
Es war ein Laut, der ihm einen kalten Schauer über den Rücken trieb. Furchtbar hörte er sich an. Ein hohles, ein tiefes Stöhnen wie aus dem Schatten einer Gruft.
Und dann wieder.
Noch schrecklicher und unheimlich klingender.
Suko schaute nach vorn, ging nach vorn, hörte das Geräusch ein drittes Mal und wußte mit hundertprozentiger Sicherheit, daß es aus dem offenen Mund des toten Horace F. Sinclair gedrungen war…
***
Er hatte die Schwelle zum Raum der Toten überwunden, aber er bewegte sich nicht weiter. Er stand vor der unsichtbaren Grenze, den Blick auf den Toten gerichtet, dessen veränderte Augen noch immer an starre Ölpfützen erinnerten, in denen sich das Licht der Deckenleuchte spiegelte.
Im ersten Moment glaubte Suko, Leben in den Augen zu sehen. Er war irritiert, zögerte noch, näher an den Toten heranzugehen, dann überwand er sich und schaute hin.
Die Gestalt lag nach wie vor in ihrer Totenstarre. Leichenblaß, marmorn. Der Mund war nicht geschlossen. Tief aus der Kehle war das Gurgeln gedrungen, Suko konnte sich jedenfalls nichts anderes vorstellen, doch das alles hatte jetzt aufgehört.
Kein Laut mehr.
Auch Suko hatte den Atem angehalten. Ein Gefühl sagte ihm, daß es noch nicht vorbei war. Da würde sich etwas tun. Die Leiche war äußerlich nicht verändert, innerlich wohl. Da war sie von einer Kraft durchströmt worden, mit der niemand hatte rechnen können.
Lalibelas Geist!
Suko dachte voller Wut daran. Er spürte, wie sein Inneres aufgeputscht wurde. Allmählich entwickelte sich dieser Name für ihn zu einem Alptraum.
Seine Kehle war trocken. Hätte er jetzt reden müssen, es wäre ihm verdammt schwergefallen. Er fühlte sich so unsicher, warf einen Blick über den Toten hinweg auf Mary Sinclair, aber sie hatte sich nicht verändert. Auch nicht die Augen.
Suko atmete aus. Er konzentrierte sich wieder auf die männliche Leiche. Die Luft in seiner unmittelbaren Nähe schien zu Eis geworden zu sein. Sie klammerte sich wie kalter Nebel an seiner Gestalt und an seiner Haut fest. Dennoch waren seine Handflächen feucht, weil der Schweiß aus den Poren
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