101 - Das Narbengesicht
beiden etwas mit dem Anschlag zu tun?" wollte ich wissen.
„Ganz bestimmt nicht", erwiderte Yoshi. „Der Mann ist spurlos verschwunden. Und jetzt halten Sie sich fest, Steiner. In den frühen Morgenstunden fischte ein Reinigungskommando der Stadt die junge Begleiterin des Vermißten aus einem Abwasserkanal. Sie stand unter einem schweren Schock. Die ersten Gespräche ergaben, daß sie und ihr Verlobter von Freaks entführt worden waren. Sie soll etwas von einer kultischen Handlung gefaselt haben. Offenbar nahm die Polizei ihr Gerede von Dämonen, Hypnofilmen und einem blutenden Kopf nicht ganz ernst. Man hat die Ärmste ins Krankenhaus gebracht."
Blutender Kopf! Es durchzuckte mich heiß. Der Schwarze Samurai und der blutende Kopf waren Dinge, die mir vertraut und doch wieder völlig fremd waren. Mir war, als habe Irgendeine unheimliche Kraft meine Erinnerungen geraubt.
,.Es kommt noch schlimmer', fuhr Yoshi fort. „Im Ueno-Park kam es letzte Nacht zu einem fürchterlichen Massaker. Die Polizei griff zunächst einige Rocker auf, die dort ihr Unwesen trieben. Die Kerle waren völlig verstört und erwähnten den Schwarzen Samurai. Der Unheimliche hat ihren Anführer getötet. Anschließend kam es zu einem Gemetzel unter den Freaks. Bis jetzt steht nicht fest, ob die Mißgestalteten sich gegenseitig umgebracht haben oder ob der Schwarze Samurai auch dafür verantwortlich ist. Er muß wie ein Wahnsinniger gewütet haben."
„Der Schwarze Samurai", murmelte ich gedankenverloren. „Zwischen ihm und den Mißgestalteten von Tokio muß also eine Verbindung bestehen."
Coco runzelte die Stirn. Sie dachte angestrengt nach, schien jedoch zu keinem Ergebnis zu kommen. „Ich kann mir keinen Reim darauf machen", sagte sie. „Warum sollte der Schwarze Samurai sein Leben aufs Spiel setzen? In der heutigen Welt fällt er doch sofort auf. Man könnte ihn praktisch bei jeder Razzia aufspüren und unschädlich machen."
„Vielleicht haben ihn die Freaks bei irgend etwas gestört", meinte Hideyoshi Hojo. „Fällt euch überhaupt nichts auf?"
Der Japaner lächelte. Er strich sich über das bürstenkurze Haar, das um die Ohren herum ausrasiert war.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
„Der Ueno-Park!" stieß ich hervor. „Dort steht das Landesmuseum."
„Stimmt!" rief Yoshi lachend. „Ich wunderte mich schon, weil ihr so begriffsstutzig wart. Im Ueno- Park befindet sich das Museum mit seiner berühmten Samurai-Abteilung. Dort wird gerade das Schwert aller Schwerter ausgestellt: das Tomokirimaru."
Coco warf die langen schwarzen Haare in den Nacken. Ihre Augen funkelten unternehmungslustig, als sie sagte: „Der Schwarze Samurai will das Schwert holen. Ich bin dafür, daß wir dem Unheimlichen zuvorkommen. Holen wir das Tomokirimaru, bevor er es uns vor der Nase wegschnappt."
Zahlreiche Besucher strömten durch die Museumsgänge. Im Landesmuseum waren mehr als 80000 Werke von unermeßlichem Wert ausgestellt. Darunter waren Malereien, Skulpturen, Kostüme, Lackarbeiten, Keramiken, Waffen und zahlreiche Wunderdinge aus den große Epochen der Samurai.
Hideyoshi Hojo hatte sich unter die Besucher gemischt. Er hörte interessiert den Ausführungen eines Museumsführers zu und musterte dabei die Menschen. Ihm würde sofort auffallen, wenn sich jemand verdächtig benahm.
Das Tomokirimaru lag unversehrt in der Glasvitrine.
Der Griff war solang, daß man das Schwert mit beiden Händen halten konnte. Die Verzierungen des Griffs waren aus purem Gold. Das Schwertstichblatt, das dem Schutz der Hand diente, wies ein Krabbenmuster auf. Die märchenhafte Klinge des Schmiedes Masamune schimmerte blaugrau wie kräuselnder Rauch. Bis auf die schmale Blutrinne war sie völlig glatt. Ich wußte, daß sie niemals stumpf werden würde.
Ein eigenartiges Gefühl ergriff mich, als ich das Schwert betrachtete. Die Waffe kam mir so vertraut vor, als hätte ich mich niemals davon getrennt. Vorsichtig berührte ich die Glasscheibe der Vitrine. „Du willst es wiederhaben, nicht wahr?"
Ich warf Coco einen kurzen Blick zu. Sie hatte mein Gefühl richtig gedeutet.
„Ja", sagte ich leise, so daß es die Umstehenden nicht hören konnten. Außer uns waren einige deutsche Touristen anwesend. Ihre Fotoapparate klickten. „Du könntest das Schwert ungesehen an dich bringen, Coco. Wenn du dich in den schnelleren Zeitablauf versetzt, merkt kein Mensch etwas. Ein Außenstehender muß das Ganze für eine Halluzination halten. Von einer
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