101 - Das Narbengesicht
sagte Sumitodo für seinen wilden Haufen.
„Macht euch ein Feuer", schlug ich den schlitzäugigen Halunken vor. „Ich bleibe nicht lange weg. Wenn der Morgen graut, reiten wir weiter."
Ich riß meinem Hengst herum und preschte durch das Dorf. Der trommelnde Hufschlag wurde von den düsteren Hauswänden zurückgeworfen. Nebelschwaden hingen über den verschneiten Hügeln. Die kahlen Äste der Weiden sahen wie Skelette aus.
Mein Hengst schnaubte erregt, als ich mich der Pestgrube näherte.
Ein Vermummter stand dort Wache. Er achtete darauf, daß kein Fremder zu nahe an den Ort des Grauens herankam. Eine Kräuterpfanne wiegte sich im Wind. Über dem Loch hing ein Totenlicht. Ein Glaszylinder schützte die Kerzenflamme vor dem Sturm.
„Hast du keine Angst vor dem Tod?" fragte ich den Vermummten.
Er antwortete nichts. Statt dessen schlug er seine Kapuze zurück. Seine kleinen Augen glühten wie brennende Kohlestückchen. Er war aussätzig. Die Gesichtsfäule hatte ihm die Hautweggefressen.
Ich ließ mein scheuendes Pferd bis an den Rand der Grube herantraben. Das Tier witterte die Gefahr und versuchte auszubrechen. Doch ich hielt es hart an der Kandare.
„Laß das Licht hinunter!" verlangte ich.
Der Vermummte gehorchte wortlos. Wenig später warf die Kerze ihr schwankendes Licht über die merkwürdig verrenkt daliegenden Körper. Der Frost hatte ihre Gesichter mit Reif bedeckt. Sie waren blaugefroren. Dennoch erkannte ich die schwarzen Heulen jener furchtbaren Krankheit, die immer wieder aufkeimte und Tausenden das Leben kostete.
Dann durchzuckte mich eisiger Schrecken.
Dort unten lagen Yobishi und Osibira, meine beiden Knappen, die auf mein Mädchen aufpassen sollten.
„Wann sind diese beiden gestorben?“
Der Vermummte hob die Hand und spreizte zwei Finger ab.
„Vor zwei Tagen?"
Der Vermummte nickte und deutete in die entgegengesetzte Richtung, wo sich die Berge düster vor den Schneewolken abzeichneten. Dort hatte ich Yobishi und Osibira bei dem Mädchen zurückgelassen. Die Dorfbewohner wußten, daß Tomoe dort lebte. Sie wußten auch, daß sie mir, dem Schwarzen Samurai, gehörte. Deshalb wagte sich keiner an sie heran.
„Lebt das Mädchen noch?" fragte ich heiser.
Der Vermummte zuckte mit den Schultern. Er wußte es nicht.
Ich riß meinen Hengst herum und preßte ihm die Sporen scharf in die Flanken. Das Tier wieherte schrill und preschte durch den aufstiebenden Schnee. Mein Hengst kämpfte sich tapfer durch die Einöde, und der Wind trug das Krächzen hungriger Krähen heran.
Ich hatte Angst um Tomoe.
Sie war die einzige, die mir das schreckliche Leben, das ich im Auftrag meines Daimyos führte, versüßen konnte. Ich hatte sie meinem Bruder und Erzfeind Hoichi abgejagt. Eigentlich hätte ich sie den Schmetterlingen überlassen müssen und sie dem Daimyo übergeben sollen. Doch sie gefiel mir viel zu gut, als daß ich sie diesem Fettsack geschickt hätte. Ich hatte darauf verzichtet, ihr den Willen zu rauben.
Auch Dämonendiener ergötzten sich an dem reinen Wesen einer Jungfrau. Und ich war ein Dämonendiener.
Die Hütte, in der ich sie zusammen mit Yobishi und Osibira zurückgelassen hatte, lag in einer verschneiten Mulde. Kahle Bäume umgaben sie, und ein niedriger Buschstreifen schützte sie vor dem rauhen Nordwind. Vor dem Haus lag ein Stapel Brennholz.
Als ich den Schornstein qualmen sah, atmete ich erleichtert auf.
Tomoe lebte also, und ich hatte den beschwerlichen Weg durch die verschneiten Berge nicht umsonst gemacht.
Ich band meinen Hengst neben der Hütte an und stieß die Tür auf.
Tomoe schien mich erwartet zu haben. Sie kauerte mit überkreuzten Beinen auf einer Bastmatte und verneigte sich, als ich näher trat. Über dem Kessel kochte Wasser. Grüne Teeblätter lagen lose in der geöffneten Schachtel.
Ich warf meinen Umhang auf den Boden.
„Willst du mich nicht begrüßen, Tomoe?" fragte ich streng. „Bereite mir einen Tee, und dann legen wir uns schlafen. Ich bin durchgefroren."
„Du solltest sofort wieder zurückreiten", sagte sie leise. In ihren hübschen Mandelaugen glomm Trotz, und ihr roter Kirschenmund hatte einen harten Zug. „Ich bin nicht allein."
„Natürlich bist du nicht allein!" stieß ich ärgerlich hervor. „Ich bin bei dir, und ich freue mich, daß du nicht ebenfalls in der Pestgrube gelandet bist."
„Das hat sie nur mir zu verdanken!" rief ein Mann aus dem düsteren Nebenraum der Hütte. Es war ein Mönch.
Ich sprang vor und riß das
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