101 - Der Unheimliche aus dem Sarkophag
dem Körper deuteten darauf hin, daß die Mumie sich in einem denkbar
schlechten Zustand befand und die Verwesung schon weit fortgeschritten war. Es
konnten auch große Wunden sein, mit denen die Leiche behaftet gewesen war, als
man sie einbalsamierte.
Mercier schnappte nach Luft wie ein Fisch,
der aufs trockene Land geraten war.
Die wandelnde Mumie steuerte direkt auf den
Sarg zu, in dem Nafri lag.
Dumpfe Laute kamen aus dem faserigen,
schrecklich anzusehenden Maul. Eine geheimnisvolle, beschwörende Sprache
erfüllte mit einem Male die Luft.
Und jedes dritte oder vierte Wort hatte einen
Klang, den er kannte.
„Naaafffrrriii. . .“ Langgezogen und dumpf
hörte es sich an.
Mercier war unfähig sich zu rühren. Wie unter
einem Zwang stand er gebeugt da, als würde eine Lähmung etappenweise seinen
Körper ergreifen und ihn von unten her absterben lassen.
Seine Gliedmaßen wurden eiskalt.
Wie ein Zentnergewicht brachte er seinen Arm
in die Höhe und wollte das aus der klaffenden Wunde in seinem Gesicht
heraustretende Blut ab wischen. Aber er brachte den Arm nicht mehr über die
Kinnhöhe hinaus.
Mercier wurde Zeuge eines unheimlichen und
beklemmenden Rituals.
Die wandelnde Mumie, die auf unerklärliche
Weise in seine Wohnung eingedrungen war, stand nun vor dem Sarg der
eingetrockneten Mumie.
Diese ledrige Nafri, deren vertrocknetem
Gewebe Jean Mercier Zellen entnommen und mit dem Kern einer furchtbaren Eizelle
verschmolzen hatte , trug das Haar offen. Aber ein
breiter Streifen fehlte. Locon war es gewesen, der nach dem Mord an seiner
Begleiterin einen dicken Zopf herausgeschnitten und mit für Mercier unbekannten
Ingredienzen, die er der oberen Hautschicht der Mumie entnahm, eingerieben
hatte.
Er hatte die hornige Oberschicht der Haut in
harzigem, wohlriechendem Öl verflüssigt. Dabei waren Stoffe gelöst worden, die
vor Jahrtausenden durch die Einbalsamierung und die geheimnisvollen Essenzen
des abtrünnigen Priesters Ak-Hom auf die Haut übertragen worden waren.
Der Zopf war geladen wie ein Fetisch, so
hatte Locon behauptet. Und die Kräfte, die von dem Zopf ausgingen, hatten sich
inzwischen mehrfach bestätigt. Keiner der Polizisten war zurückgekommen. Alle
waren zufrieden abgezogen und hatten ihren Bericht in Merciers Sinn
geschrieben.
Ak-Hom hob beide Arme und breitete sie über
dem Sarg aus. Immer wieder rief er den Namen der Geliebten. Ein geheimnisvoller
Ruf, den nur er vernehmen konnte, hatte ihm den Weg gezeigt.
Auf Anhieb hatte er das Haus gefunden. Die
gespenstischen Ereignisse, die mit dem Raub von Claude Perins Seele und Geist
ihren Anfang genommen hatten, setzten sich hier - viele Kilometer vom
Ursprungsort entfernt - fort.
Im Sarg raschelte es.
Mercier traute seinen Augen nicht.
Die enggeschrumpfte, verdorrte Nafri erhob
sich.
Es knasterte, als würde jemand Pergament
zusammenfalten.
Nafris Mumie kam langsam in die Höhe, als
würde sie an unsichtbaren Fäden gezogen.
Die eng an den Körper gelegten Arme, die
einst von vergilbten Leinwandbinden gehalten wurden und die Mercier entfernt
hatte, kamen nach oben.
Das braunschwarze Gesicht blieb unbewegt.
Mercier begriff nicht, was vorging, welch
teuflische Magie hier wirksam wurde.
Da sah er noch weniger.
Das Blut verklebte seine Augen. Nur mit einem
Auge noch hatte er ein kleines Blickfeld, und er war nicht mehr imstande das
Blut abzuwischen.
Alles in ihm sträubte sich. Er schrie
plötzlich, daß es schaurig durch die Wohnung hallte.
Aber die beiden Mumien schienen ihn nicht zu
hören. Sie betrieben auf eine eigene und stumme Weise Kommunikation, die er nicht
mitbekam.
Er wußte nicht, welche Botschaften und welche
Informationen ausgetauscht wurden.
Die Schreie aber bewirkten etwas anderes.
Nafris Kopie im Glaskasten erwachte!
Die schöne Ägypterin öffnete die Augen. Sie
richtete sich auf und wandte den Kopf.
Erschrecken spiegelte sich in ihren Augen.
Sie verstand nicht, was hier vorging. Sie klopfte zaghaft an die Glaswand. Das
hatte sie nie zuvor getan!
„Nafri! Nafri! Nicht! Verhalte dich ruhig!“
Es kam gurgelnd und schwach aus Merciers Kehle.
Als der Name Nafri fiel, ruckte der Kopf der
eben aus dem Sarg steigenden Mumie herum.
Auch Ak-Hom warf den kantigen verkrusteten
und wie blatternarbig wirkenden Schädel herum. Sein verwüstetes, wie eine
Kraterlandschaft wirkendes Gesicht wandte sich aber nicht dem Franzosen zu,
sondern dem jungen Mädchen hinter der Glaswand.
Ein Ruck ging durch den Körper
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