101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
ehe er nach Indien reist, mit seiner Cousine verheiratet werden. Doch im Text steht zunächst nichts davon, dass seine künftige Ehefrau seine Cousine ist. Etwas später wird ganz selbstverständlich von seiner Cousine die Rede sein, jedoch ohne zu erwähnen, dass sie seine Frau ist. Die Adressaten des Originals wissen ja, dass die Heiratsgebräuche die Eheschließung mit der Cousine väterlicherseits als normal voraussetzen. Für ein heutiges deutsches Lesepublikum hingegen muss die betreffende Stelle in der Übersetzung ergänzt werden, weil sonst der Handlungsfortgang schlicht unverständlich wäre.
Original:
«Mein Herr», wehrte der Chorasaner ab, «seine Hochzeit steht kurz bevor, und er kann nicht eher auf die Reise gehen, als bis er ein Jahr herumgebracht hat.»
Übersetzung:
«Mein Herr», entgegnete der Choras â ner, «seine Hochzeit steht kurz bevor, und er kann nicht eher auf die Reise gehen, als bis er ein Jahr mit der ihm angetrauten Frau, seiner Cousine, verbracht hat.»
Herrschertitel und Herrscheranrede
In Hundertundeine Nacht treten verschiedene Herrscher auf: ein König von Indien, persische Großkönige, viele kleinere Könige und Fürsten sowie einige aus der Geschichtsschreibung bekannte Kalifen. Die Kalifen tragen in Hundertundeine Nacht den für Kalifen üblichen Titel «Beherrscher der Gläubigen» (amīr al-m u ʾ minīn) . Doch schon bei ihrem nächsten Auftritt werden sie durchgängig als «König» (malik) , sehr selten auch als «Fürst» (amīr) betitelt.
Original:
… dass der Beherrscher der Gläubigen, Abdalmalik Ibn Marw â n, einen Wesir namens Ibn Abilkamar hatte. Er war ein kluger und gewitzter Mann und in allen Wissenschaften gebildet. Beim König stand er in hohem Ansehen. Darum beneideten ihn die Söhne Umayyas und hinterbrachten dem König hässliche Gerüchte über ihn …
Dies ist auf den ersten Blick ungewöhnlich. Kalifen und Könige werden in der historischen Literatur streng geschieden. Der übergeordnete Herrscher ist immer der Kalif; Könige waren untergeordnete Lokalherrscher, oft ist «König» sogar eine abwertende Bezeichnung für weltliche Herrscher, die keine religiöse Legitimation besaßen. Wie also können wir das Phänomen erklären? Der scheinbare Bruch beim Herrschertitel ergibt sich offenbar aus einer gewissen erzählerischen Routine. «Könige» sind ja die Haupthandlungsträger der meisten Geschichten aus Hundertundeine Nacht . Im Erzählverlauf konnte es quasi unbemerkt geschehen, dass der Titel «Kalif» durch den in Hundertundeine Nacht viel gebräuchlicheren Titel «König» ersetzt wurde. In der Übersetzung muss jedoch darauf geachtet werden, dass nicht der Eindruck entsteht, beim «König» handele es sich um eine neue Figur oder einen alternativen, eventuell historisch relevanten Titel des Kalifen. Überall dort, wo eindeutig der Kalif gemeint ist, aber «König» steht, habe ich darum für «König» das neutralere Wort «Herrscher» eingesetzt oder bin der Eindeutigkeit halber gleich ganz zum «Kalifen» zurückgekehrt:
Übersetzung:
… dass der Beherrscher der Gläubigen, der Kalif Abdalmalik Ibn Marwân, einen Wesir namens Ibn Abilkamar hatte. Er war ein kluger und gewitzter Mann und in allen Wissenschaften bewandert. Beim Herrscher stand er in hohem Ansehen. Darum beneideten ihn die Nachkommen Umayyas. Sie hinterbrachten dem Kalifen hässliche Gerüchte über ihn …
Erklärungsbedürftig ist außerdem, weshalb Könige und Kalifen sich in der Übersetzung mit «Du» und nicht mit dem in der deutschen Literatur üblichen und aus dem höfischen Bereich stammenden «Ihr» anreden lassen. Hier macht das Original ganz klare Vorgaben. Bei der Anrede wird nicht zwischen Vertraulichkeits- und Höflichkeitsformen unterschieden. Ein Siezen gibt es im Arabischen gar nicht, die Verwendung der zweiten Person Plural hat sich erst sehr spät und nur rudimentär eingebürgert. In Hundertundeine Nacht begegnet es nur ein einziges Mal, wo ich es auch in der Übersetzung getreu wiedergebe. In allen anderen Fällen wird unter Absehung jeglicher Rang- und Altersunterschiede konsequent geduzt.
Ungewöhnliche Wortbedeutungen , Mehrdeutigkeiten und fremde Idiomatik
Bei der großen Distanz, die den Originaltext von uns heutigen Lesern trennt, ist es kaum verwunderlich, dass darin einiges zu finden ist, wofür unsere Sprach- und Gedankenwelt nicht die richtigen Begriffe und Vorstellungen parat hält. In Hundertundeine Nacht betrifft dies insbesondere
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