101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
Kugeln im Sinne rollender Bälle, sondern gedrechselte oder geschmiedete Zierkugeln als Abschluss von Zeltpfosten. Die phantasievolle Bezeichnung lässt also ein Land, voll bestanden mit kugelbesetzten Zelten, vor dem inneren Auge entstehen.
Ein weiterer rätselhafter Problemfall betrifft die etwas konkretere Geographie. In der Geschichte von der Kampferinsel berichtet ein alter Seefahrer von seinen Weltreisen: Er habe die Länder Sind und Hind gesehen – wobei die beiden geographischen Namen sich im Original reimen – sowie China (arab. bilād a ṣ - Ṣ īn ) und ein rätselhaftes Land namens al-Qas ṭ īn (im Schriftbild القسطين ). Auch dieser Name wurde offensichtlich um des Reimes willen ausgesucht oder umgeformt. Denn mit der Endung - īn reimt er perfekt auf a ṣ - Ṣ īn («China»). Nun findet sich in keiner mir bekannten geographischen Quelle ein Ortsname dieser Lautung. Der Name muss also aus einem anderen geographischen Namen verschrieben oder verballhornt worden sein. Doch welcher Name war ursprünglich gemeint? Nach langer Recherche gelangte ich zu folgender Lösung: Das Wort ist wahrscheinlich ist aus Filas ṭ īn ( فلسطين ), «Palästina», verschrieben, wobei der Buchstabe lām ausfiel. Filas ṭ īn würde sich auf a ṣ - Ṣ īn («China») reimen und insofern in der rhetorischen Figur Sinn ergeben. Denn es geht ja darum, in gereimten Namenspaaren – Sind und Hind, China und Palästina – die ganze Weite der Welt auszudrücken. Diese Option wird außerdem dadurch gestützt, dass im Geographiebuch des Zuhrī, das in derselben Sammelhandschrift wie Hundertundeine Nacht und vom selben Schreiber überliefert wurde, die Länder Sind, Hind, China und Palästina fast im selben Atemzug, jedenfalls im selben Kapitel über die Einteilung der Welt in Regionen genannt werden. 12
Im arabischen Text kommt ein Sprichwort vor, bei dem es verlockend gewesen wäre, es durch ein bedeutungsgleiches deutsches zu ersetzen. Der Held Suleiman befreit hier ein Mädchen aus der Fessel ihres Entführers, dem er zugleich seine handgreifliche Rache androht:
Als Suleiman ihre Rede gehört hatte, band er sie los und sagte dabei zu ihr: «Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!»
Obgleich es der unmittelbaren Textverständlichkeit gedient hätte, das fremde Bild durch ein vertrautes zu ersetzen, habe ich im Interesse einer größeren Treue zum Original darauf verzichtet. Es heißt darum in der Übersetzung wie im Original:
Als Suleiman ihre Rede gehört hatte, band er sie los und sagte dabei zu ihr: «Eisen wird nur durch Eisen zerspalten!»
Schließlich darf, wo es unumgänglich ist, eine Übersetzung auch einmal ein neues deutsches Wort kreieren. In Hundertundeine Nacht betrifft dies das Wort «Dienstjunge» (arab. ġ ulām ), das maskuline Pendant zum wohlbekannten «Dienstmädchen», ein Wort, mit dem gleichzeitig die Jugend als auch der Stand des Dieners bezeichnet wird. Hier und dort habe ich das Wort auch als «Page» übersetzt, aber überall dort, wo «Page» für den Kontext zu vornehm klang, auf «Dienstjunge» zurückgegriffen.
Koranzitate und der Begriff «Gott»
Koranzitate wurden in Anlehnung an die aktuelle Neuübersetzung des Korans durch Hartmut Bobzin übertragen, meist sogar wörtlich daraus übernommen. 13 Wie in dieser Koranübersetzung – und wie auch schon in Tausendundeine Nacht – wird Allāh auch in Hundertundeine Nacht mit «Gott» übersetzt. Denn es handelt sich ja nicht etwa um den Eigennamen eines spezifischen islamischen Gottes, sondern um den einzigen und für alle Religionen gültigen arabischen Begriff für Gott. Auch arabische Juden und Christen kennen keinen anderen Begriff für Gott als Allāh. Daher heißt es in Hundertundeine Nacht nicht «Gelobt sei Allah», sondern «Gelobt sei Gott».
Fehler in der Handschrift
Schreiber bzw. Kopisten von Erzählliteratur nehmen in der Überlieferung arabischer Texte eine Sonderstellung ein: Sie fühlten sich, auch wenn sie eine schriftliche Vorlage kopierten, nicht so sklavisch an diese Vorlage gebunden, wie dies etwa bei wissenschaftlichen oder theologischen Werken oder gar bei heiligen Texten der Fall war. Dennoch improvisierten sie beim Abschreiben in der Regel nicht, generierten also nicht aktiv und eigenständig neue Versionen, sondern nahmen im Gegenteil eine eher nachlässige Haltung zum Text ein. Dies führt zu der für Erzähltexte typischen Variantenbreite, die für Tausendundeine Nacht so beschrieben
Weitere Kostenlose Bücher