101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
Vogel berichtete ihm alles, was er gesehen hatte. Fortan zog sich der Mann von seiner Ehefrau zurück und näherte sich ihr nicht mehr. Die Frau dachte, ihre Dienstmagd müsste den Ehemann in Kenntnis gesetzt haben. Sie ergriff die Dienerin und herrschte sie an: ‹W ie kommt es, dass mein Mann sich mir verweigert? Ich habe den Verdacht, dass du ihm alles über mich erzählt hast!› – ‹Bei Gott, ich habe ihm nichts erzählt›, schwor die Dienstmagd. ‹Ich habe vielmehr den Vogel im Verdacht, dass er es ihm verraten hat.›
In der nächsten Nacht trat die Frau zu dem Papagei hin und fing an, durch ein Sieb Wasser auf ihn zu sprühen. Dazu schwenkte sie einen indischen Spiegel, und die Dienerin kurbelte gleichzeitig die Mühle rundherum, bis es Morgen wurde.
Am Morgen kam der Mann wieder zu dem Papagei. ‹Erzähl mir, was du gestern gesehen hast›, befahl er ihm. ‹Gestern›, entschuldigte sich der Papagei, ‹konnte ich kaum meine Augen aufmachen, weil es so heftig geblitzt und gedonnert und geregnet hat.› – ‹W as für ein Donner?›, wunderte sich der Mann und schloss: ‹Alles, was er mir erzählt hat, ist Unsinn.› Damit ließ er den Papagei fliegen und zerbrach den Käfig. Dann versöhnte er sich mit seiner Ehefrau und stellte sie wieder zufrieden. Dies habe ich dir erzählt, damit du weißt, dass die Tücke der Weiber ungeheuerlich ist.»
Als der König das gehört hatte, befahl er, dass sein Sohn nicht getötet würde.
Doch am zweiten Tag kam die Frau wieder zum König. Sie brach in Tränen aus. «Der König darf seinem Sohn nicht einfach so verzeihen, wo er doch den Tod verdient hat», schluchzte sie.
[Der Tod des Wäschewalkers]
« Ich habe nämlich gehört, dass es einmal einen Wäschewalker gab. Immer wenn er zum Fluss ging, kam sein Sohn mit ihm. Das Kind spielte dann jedes Mal im Wasser, obwohl sein Vater ihm dies verboten hatte.
Eines Tages entfernte sich der Vater für kurze Zeit, da geriet der Sohn in die Strömung und drohte zu ertrinken. Der Vater rannte ihm hinterher, um ihn herauszuziehen. Das Kind aber hängte und klammerte sich an ihn, und am Ende starben sie beide.
Wenn du, o König, nicht tust, was ich dir sage, und mir nicht zu meinem Recht verhilfst, dann wird es dir genauso ergehen wie dem Wäschewalker und seinem Sohn. Am Ende wirst du selbst mit untergehen, weil er verloren ist.»
Als der König das hörte , erteilte er den Befehl, seinen Sohn zu töten.
Da kam der zweite Wesir auf ihn zu, befahl, dass der Junge zurückgehalten würde, und trat vor den König. «Majestät», sagte er, «selbst wenn du hundert Kinder hättest, so stünde es dir doch nicht zu, auch nur eines davon zu töten. Wie kann es da angehen, wo dieser dein einziges Kind ist und du keinen anderen hast als ihn? Du darfst deinen Sohn nicht töten, denn wer etwas Unbedachtes tut, wird es erst dann bereuen, wenn ihm die Reue nichts mehr nützt.
[Die zwei Brote]
Die Leute behaupten nämlich, dass es in alter Zeit einmal einen Kaufmann gab, der glücklich und erfolgreich war und gutes Essen und Trinken zu schätzen wusste. Einmal musste er auf eine Handelsreise gehen und kam dabei in eine andere Stadt. Dort schickte er seinen Dienstjungen auf den Markt, damit der ihm etwas zum Mittagessen besorgen sollte. Während der junge Diener so auf dem Markt umherging, bemerkte er ein Mädchen mit Fladenbroten. Der Diener kaufte ihr die Brote ab und brachte sie zu seinem Herrn. Der sah sich die beiden Brote an, sie gefielen ihm, und er aß sie auf. ‹Kaufe jeden Tag zwei solche Brote›, wies er seinen Dienstjungen an.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die zweiundsechzigste Nacht
~ Und so, mein Gebieter, sagte sie, ~ geht die Geschichte weiter:
«Der junge Diener ging also von nun an täglich auf den Markt und kaufte bei dem Mädchen die zwei Brote für seinen Herrn. Eines Tages kam er wieder zu dem Mädchen und stellte fest, dass sie nichts anzubieten hatte. ‹W arum hast du heute kein Brot gebacken?›, sprach er sie an. ‹Der, für den ich die Brote gemacht hatte, ist gesund geworden›, entgegnete sie.
Der Dienstjunge kehrte zu seinem Herrn zurück und erstattete ihm Bericht. Der Kaufmann schickte ihn erneut zu dem Mädchen, damit er fragen sollte, wie sie die Brote zubereitet habe.
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