101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
deine Wesire nicht hören!»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die dreiundsechzigste Nacht
Er spricht:
Und in der folgenden Nacht kam der König, brach das Siegel auf und schlief mit dem Mädchen bis zu der bewussten Zeit.
Da rief ihre Schwester Danisad ihr zu: ~ Ach, meine Schwester! Ach, Schahrasad, erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schönen Geschichten!
~ Einverstanden!, erwiderte sie. ~ Und so, mein Gebieter, geht die Geschichte weiter:
«Ich werde dir etwas erzählen, o König», fuhr die Frau fort.
[Der Königssohn und die Menschenfresserin]
«Es war einmal ein Wesir bei einem König. Dieser König hatte einen Sohn, der ganz versessen war aufs Jagen und Fallenstellen. Aber sein Vater hatte es ihm verboten. Darüber war sein Sohn traurig. ‹Kannst du nicht meinen Vater für mich fragen, ob er mir erlaubt, zusammen mit dir auf die Jagd zu ziehen?›, bat er den Wesir und fügte hinzu: ‹Dafür wirst du immer in seiner Gunst stehen.› Der Wesir fragte also für ihn um Erlaubnis, und der König ordnete an, dass er auf die Jagd ziehen dürfe.
So zog der Königssohn mit dem Wesir hinaus. AufeinmalkreuzteeinWildeselihrenWeg. ‹V erfolgeihn,bisduihnhast!›,fordertederWesirihnaufundbliebanOrtundStellestehen.DerKönigssohnjagtedemWildeselhinterher.Dochimmerwennernaheherangekommenwarundihngeradefangenwollte,gewanndieserwiederVorsprung.VölligindieVerfolgungdesWildeselsvertieft, entfernte sich der Königssohn immer weiter vom Wesir . Schließlichwussteergarnichtmehr,wohinersichwendensollte.Erwarsichsicher,dassersterbenwürde.Geradesoverhieltessichmitihm,alserplötzlichmittenaufdemWegeinMädchensitzensah.SiewarinTränenaufgelöst. ‹W erbistdu,meinMädchen?›, sprach der Königssohn sie an, ‹und was hat dich hierher geführt?›
‹Ich bin die Tochter des Königs vom Lande Soundso›, erwiderte sie . ‹Ich bin auf einer Maultierstute geritten und war mit meiner Familie unterwegs. Sie wollten dort und dorthin. Ich bin eingeschlafen und vom Reittier gefallen, und keiner hat es gemerkt. Als ich aufwachte, wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte. Sie waren längst weitergezogen und hatten mich allein liegen lassen. Also bin ich zu Fuß weitergegangen, bis meine Füße ganz wund waren. Und jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich bin.›
‹Auch ich bin ein Königssohn›, gab der junge Mann ihr zur Antwort , ‹und zwar der Sohn von dem und dem König. Wenn du willst, nehme ich dich mit und heirate dich.› – ‹Ja, bitte›, sagte sie, und er nahm sie an der Hand und setzte sie hinter sich aufs Pferd. Von Zeit zu Zeit drehte er sich nach ihr um. ‹He, du›, sagte sie unvermittelt, ‹ich muss hier unten am Boden etwas erledigen. Lass mich herunter.› Er ließ sie absteigen, und sie schlüpfte in eine Ruine. Er blickte ihr nach, und was sah er da? Sie war eine Dämonin, eine von den schlimmsten Dschinnen und Menschenfressern. Bei ihr war ein junger Ghûl, ebenfalls ein Menschenfresser. ‹Ich habe dir frisches Menschenfleisch mitgebracht!›, rief sie ihm zu. ‹Bring ihn in die andere Ruine, damit ich ihn mir dort vornehmen kann!›, rief der andere zurück. Sie kam wieder zu dem Königssohn heraus und stieg hinter ihm aufs Pferd. Vor lauter Angst zitterte und schlotterte der Königssohn am ganzen Körper.
Da bemerkte sie seine Schönheitund bat ihn, ihr stattdessen sein Geld zu geben. ‹Einem Feind gibt man kein Geld›, wehrte er ab. ‹W er ist denn dieser Feind?›, fragte sie zurück. ‹Der, vor dem ich mich in meinem tiefsten Herzen ängstige›, sagte er. ‹Und du gibst vor, ein Königssohn zu sein?›, entrüstete sie sich. ‹Ich fürchte›, gestand er, ‹ich bin dir nicht gewachsen.› – ‹Dann rufe Gott um Hilfe an›, riet sie ihm. ‹Ja, das will ich tun›, beschloss er, hob seine Hände gen Himmel und betete : ‹O Gott, steh mir bei gegen diese Menschenfresserin und erlöse mich von ihrer Bosheit!› Augenblicklich fiel sie von dem Reittier herab und stürzte zu Boden. Der junge Mann aber floh zurück zu seiner Familie. Er war völlig von Sinnen, und sein Verstand war ganz benommen von den schrecklichen Abenteuern, die er durchlitten hatte.
Diese Geschichte habe ich dir nur deshalb erzählt», schloss sie ihre Erzählung, «damit du nicht auf das hörst,
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