101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
jetzt erklärt mir», wandte er sich in die Runde, «wer schuld daran gewesen wäre, wenn ich ihn getötet hätte. Der Lehrer? Die Frau? Oder ich selbst? Oder der Astrologe, der in den Sternen sah, dass er für sieben Tage schweigen musste, und mir nichts davon sagte?»
«Deinen Sohn träfe keine Schuld, o König», stellte einer der Gelehrten fest, «und auch nicht seinen Lehrer, denn der König hatte diesem ja die Bedingung auferlegt, dass er ihn auch nicht eine einzige Stunde später wiederbringen dürfe, als es vereinbart war. Die Schuld läge ganz allein beim König, der seines Sohnes Tod befahl wegen einer Frau, von der er nicht einmal wusste, ob sie die Wahrheit sprach oder ob sie log.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die fünfundsiebzigste Nacht
~ Und so, mein Gebieter, sagte sie, ~ geht die Geschichte weiter:
Nachdem der Gelehrte zu Ende gesprochen hatte, sagte ein anderer Lehrer: «Nein, die Schuld läge auch nicht bei dir, o König, denn man hat mir berichtet, dass es auf der Welt keine Versuchung gibt, deren Ursache nicht die Frauen sind, genau wie es auch keine härteren Hölzer gibt als Sandelholz und Kampferbaum. Diese beiden sind so hart, dass sie Funken schlagen, wenn man sie aneinanderreibt.»
Da meldete sich Sindbad zu Wort. «Majestät!», sagte er. «Ich habe alles, was ich an Wissen ansammeln konnte, deinem Sohn beigebracht und kenne jetzt keinen klügeren Jungen auf der ganzen Welt. Gott sei gepriesen, o König!»
Nun wandte sich der König seinem Sohn zu. «Und was sagst du dazu?», fragte er ihn.
«Der schlechteste Mensch ist der, der am wenigsten gelernt hat», entgegnete der Junge. «Ich lobe Gott und danke meinem Lehrer!»
Als der König das hörte , pries und lobte er Gott. Dann befahl er, das Mädchen herbeizubringen, das ihn belogen hatte. Sobald sie vor ihm stand, stellte er sie zur Rede: «W as hattest du im Sinn? Und was hat dich dazu verleitet?»
«Gott möge dem König Gedeihen schenken und ihn versöhnen!», erwiderte sie. «Du weißt ja, dass der Mensch sich selbst am nächsten ist und es nichts Lieberes für einen Menschen gibt als das eigene Leben. Was ich zu deinem Sohn gesagt habe, das habe ich tatsächlich gesagt, jedoch nur in der Absicht, ihn zum Sprechen zu bewegen. Als ich sah, dass er zornig wurde, bekam ich Angst um mein eigenes Leben und fürchtete, dass ich getötet würde. Da hat der Teufel sich meines Herzens bemächtigt. Ja, ich gebe alles zu und gestehe meine Schuld!»
Da befahl der König, sie freizusprechen, und verzieh ihr. Dem Lehrer und den Wesiren ließ er Geld in Hülle und Fülle auszahlen, und so lebten sie fortan vergnügt, aßen und tranken sich satt an den köstlichsten Speisen und Getränken, bis das sichere Ende sie ereilte.
Die Geschichte vom König und dem Lindwurm
~ Die Leute behaupten, o König, fuhr sie fort zu erzählen, ~ dass es einmal einen König gab, der Kamele, Ziegen, Schafe und Rinder besaß. Unter den Tieren war eine Kamelstute, die war die schönste und edelste in ihrer Zeit. Die Kamelstute hatte ein hübsches Fohlen.
Dieses Fohlen lief mit dem Kleinvieh und den Kühen in der Herde mit und führte die anderen Tiere herum. Der König liebte es sehr. Immer wenn er ausreiten wollte, stieg er auf seine Kamelstute, sah als Erstes nach dem Fohlen und erfreute sich an seiner Schönheit. Keiner wagte es, sich der Herde zu nähern, weil das Kamelfohlen dabei war.
Eines Tages scheute das Fohlen, wütete und tobte ungebärdig herum und lief schließlich davon, und die Kühe, Schafe, Ziegen und Kamele liefen ihm hinterher.
Als der König das sah, nahm er mit vierzigtausend Reitern die Verfolgung auf. Doch fand er weder eine Spur von dem Fohlen noch von den Tieren, die ihm hinterhergelaufen waren.
Bekümmert kehrte der König zurück und ließ unter allen arabischen Stämmen den Aufruf verbreiten: «W er mir Kunde bringt von dem Fohlen, dem zahle ich tausend Dinar in Gold und gebe ihm dazu noch tausend Kamelstuten.» So verstrich einige Zeit, ohne dass er ein Lebenszeichen von dem Fohlen vernahm oder auch nur die geringste Spur von ihm entdeckte.
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür,
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