101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
dem Mädchen.
Da sprach der ältere Bruder zu sich selbst: «W enn ich nun mit leeren Händen vor meinen Vater trete, so wird er mich beschimpfen und verstoßen. Nein, ich werde eine List gegen meinen Bruder aushecken und ihm ein Schlafmittel zu trinken geben. Dann fessle ich ihn an einen Baum und nehme ihm alles ab, was er mit sich führt. Dort lasse ich ihn allein zurück. Sollen ihn doch die wilden Tiere fressen! So werde ich es einrichten», überlegte er weiter, «dass ich es bin, der meinem Vater die Blätter bringt.»
Und das tat er, ließ seinen Bruder zurück und kehrte allein heim in das Stammesgebiet seines Vaters. Voraus schickte er einen Boten, der seinen Vater von seiner Ankunft unterrichten sollte.
Schon kam sein Vater ihm entgegen mit all seinen Wesiren und seinem ganzen Hofstaat, und sie veranstalteten eine festliche Parade zu seinem Empfang. Nachdem er sich zu ihnen gesetzt hatte, begann sein Vater ihn nach seinen Erlebnissen zu befragen, und er erstattete ihm Bericht und überreichte ihm die Blätter. Der König löste die Blätter in Milch auf und bestrich damit sein Gesicht. Es heilte augenblicklich und war wieder genau wie zuvor. Sein Vater freute sich sehr. Doch sobald er mit ihm allein war, fragte er ihn nach seinem Bruder.
«Ich habe ihn bei dem und dem Stamm zurückgelassen. Er schlägt sich dort den Bauch voll», behauptete der ältere Königssohn und prahlte weiter: «Ich bin ganz allein losgezogen und Tage und Nächte hindurch durch Wüsten und Einöden gewandert.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die zweiundachtzigste Nacht
~ Und so, mein Gebieter, sagte sie, ~ geht die Geschichte weiter:
Als der König hörte, was sein Sohn da über seinen Bruder erzählte, nahm er sich vor, sobald sein jüngerer Sohn ihm in die Hände fiele, diesen ans Kreuz zu schlagen und zu töten. Doch der Herr des Verborgenen lenkt das Verborgene, wie es Ihm gefällt.
Der jüngere Königssohn verbrachte unterdessen die Nacht an den Baum gebunden, so wie sein Bruder ihn zurückgelassen hatte. Als der Morgen dämmerte, erwachte er aus seinem Schlummer und bemerkte, dass er gefesselt war. Sofort war ihm klar, dass sein Bruder ihn listig hintergangen haben musste, und er machte sich darauf gefasst, zu sterben. Schon flogen von allen Seiten Vögel herbei, gierig darauf lauernd, ihn fressen zu können. Gerade so verhielt es sich mit ihm, als Gott eine Karawane des Weges schickte.
Die Reisenden sahen die Vögel sich sammeln und gingen darauf zu. Als sie sich dem Ort genähert hatten, entdeckten sie am Baum den Königssohn. «W er bist du?», sprachen sie ihn an, «und wer hat dir das angetan?»
«Ich bin ein Fremder und wurde von Räubern überfallen», antwortete er. «Sie haben mir alles geraubt, was ich besaß, und dann haben sie mit mir getan, was ihr jetzt hier seht.»
Sie banden ihn los, und er zog mit ihnen weiter, bis er ins Stammesgebiet seines Vaters kam. Dort ließen sie sich nieder. Auch der Königssohn stieg ab und begab sich zum Palast seines Vaters.
Kaum war er eingetreten, da befahl der König auch schon, ihn mit dem Eisen zu töten. Einem seiner Diener erteilte er den Auftrag, die bevorstehende Hinrichtung zehn Tage lang öffentlich bekannt zu machen. Am elften Tag kamen alle Menschen von überall her zusammengelaufen. Der König befahl, seinen Sohn an einem Palmstamm zu kreuzigen. Man ergriff den Königssohn und band ihn dort fest. Dann rief er dessen älteren Bruder herbei, damit dieser ihn töten solle. Der erhob sich, legte die Hand fest um das Heft seines Schwerts und schickte sich an, ihn zu töten, als plötzlich ein gewaltiger Schrei ertönte , von dem die ganze Erde erzitterte. Die Menschen hoben die Köpfe, und was sahen sie da? Ein Ritter wie ein furchterregender Berg oder das wogende Meer kam dahergeprescht. Ihm folgte eine ungeheure Armee, einer sich überschlagenden Welle gleich. Flatternde Banner hatten sie erhoben und leuchtende Flaggen. Von allen Seiten kamen die Streitrösser angaloppiert. Der Ritter, der den Schrei ausgestoßen hatte, näherte sich dem Königssohn. Als er ihn am Kreuz hängen und das Volk davor versammelt sah, befragte er sie nach ihm. Die Leute sagten ihm, es handle sich um den Königssohn Soundso. Sowie der Ritter das hörte, griff er an. Er
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