101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
Wadis empor, und die Vögel zwitscherten darin. Da gab es Nachtigallen, Triele, Wild- und Turteltauben, Felsen- und Palmtauben, Papageien, prächtige Pfauen und lauter Singvögel mit schönen Stimmen.
Am Ufer des Wadis stand ein Schloss, wie kein Auge je ein schöneres gesehen hatte. Seine Zinnen leuchteten, die Tore waren wehrhaft verschlossen.
Als der Königssohn das Wadi sah, durchquerte er es und ging hinüber in die Nähe des Schlosses. Vor dem Schloss bemerkte er eine verfallene Tafel aus weißem Marmor. Darauf standen mit Lapislazuli diese Verse geschrieben:
[ Kâmil ]
«Schau auf das Haus und wie es sich verändert hat,
Seitdem der, der dort wohnte, es verlassen hat.
Der Verfall zog seinen langen Schweif durch dieses Haus,
Seine Mauern brachen, die Steine fielen an ihrer statt.
Die Bewohner zogen fort und kehrten nicht zurück.
Ihre Spuren sind verwischt, der Sand ist wieder glatt.
Denk ich an dieses Haus und das, was dort geschah,
So fließt die Träne überreichlich und wird nie satt
Vom Weinen. Ach! Mein Freund, du fühltest Mitleid wohl,
Wenn du wüsstest, was mein Auge dort gesehen hat.»
Er spricht:
Nachdem er die Verse gelesen hatte, trat der Königssohn auf das Schlosstor zu. Er fand es offen.
Durch den ummauerten Vorhof trat er hinein und schritt weiter, bis von der Halle in der Mitte des Schlosses her Licht zu ihm drang. Er betrat die Halle und sah sich um. Mitten darin entdeckte er ein Zelt aus weißer Seide, auf dessen Spitze eine goldene Mondsichel angebracht war. Von der Mondsichel war ein Rubin eingefasst, der die Blicke zu rauben schien. Zur Rechten des Zeltes stand ein Baum, zu seiner Linken ein anderer Baum, genau wie der Mönch es ihm beschrieben hatte.
Er wanderte weiter durch die Räume des Schlosses. Keine Menschenseele konnte er dort entdecken. Nur das Mädchen schlief auf ihrem Bett in ihrem Gemach. Er ging auf das Bett zu und fand ein seidenes Netz mit eingewirkten Juwelen darüber aufgehängt.
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad , und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.
Die einundachtzigste Nacht
~ Einverstanden, sagte sie. ~ Und so, mein Gebieter, geht die Geschichte weiter:
Der Königssohn betrat also das Gemach, ging auf das Zelt zu, hob seine Zipfel und fand in seiner Mitte ein Bett. Das Bett stand auf goldenen Füßen und war mit Rubinen bekränzt. Auf dem Bett lag jemand und schlief. Ein goldgewirkter Mantel bedeckte die Schlafende. Er lüftete den Mantel, und was sah er da? Ein Mädchen gleich dem strahlenden Vollmond.
Als der Königssohn sie sah , wurde er von ihrer Schönheit verlockt. Er zog seine Kleider aus und schickte sich an, zu ihr aufs Bett zu steigen. Doch was war das? Unter dem Bett kroch ein Drache hervor! Der Königssohn schrak zurück. Im selben Moment zog sich auch der Drache zurück auf seinen Platz. Da erkannte der Königssohn, dass der Drache ein Talisman war. Mit einem Kniff schaltete er ihn aus, griff wieder nach seinen Kleidern, legte sie ab, stieg zu dem Mädchen aufs Bett und fiel über sie her. Er fand, dass sie Jungfrau und noch unberührt war. Dann stieg er wieder vom Bett herunter und schrieb an die Wand des Gemachs:
«Das ist das Werk von Soundso, dem Sohn von König Soundso.»
Leise verließ er das Zelt, während das Mädchen immer noch schlief. Er ging zu dem Baum, pflückte so viel Blätter, wie er tragen konnte, und begab sich dann zurück zu der Mönchszelle. Dort ließ er sich nieder, um die Nacht bei dem Mönch zu verbringen. Der Mönch fragte ihn, was ihm widerfahren sei, und er erzählte ihm alles.
Am nächsten Morgen legte er seine Rüstung an, verschleierte sein Gesicht, nahm Abschied von dem Alten und kehrte wieder zu dem Stamm zurück, wo er seinen Bruder zurückgelassen hatte. Sein Bruder kam ihm mit den Stammesleuten zum Empfang entgegen, und sie hielten eine große Parade für ihn ab. Am nächsten Morgen stiegen er und sein Bruder auf ihre Pferde, verabschiedeten sich von dem König und durchquerten das Land in seiner Weite und Breite bis zum Mittag. Dann machten sie Rast an einem Ort, der reich an Früchten und Bäumen war. Sein älterer Bruder zog Essen hervor, und sie verzehrten es beide. Dann befragte ihn sein Bruder. Er gab ihm über alles Auskunft, eröffnete ihm auch das Geheimnis der Blätter und berichtete ihm von seinem Abenteuer mit
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